Es ist nicht bekannt, ob Philip schon früher aufs Geratewohl einem Mädchen auf seinen Streifzügen durch die Stadt gefolgt war, ob er bewusst und vorsätzlich diesem verbotenen Spiel nachging. Denn verboten war es, vielleicht nicht nach dem Gesetz, aber nach der guten Sitte. Selbst wenn die Frau nichts von ihrem Verfolger bemerkte, blieb es anrüchig, eine Belästigung, und wenn Philip seine Tat rechtfertigen wollte, musste er sich bald, bei der ersten Gelegenheit, zu erkennen geben. Im Schatten einer Frau zu bleiben, sie im Verborgenen zu studieren, ihren Körper, ihre Bewegungen zu betrachten, während sie ihre Besorgungen erledigte, sich an ihrer Arglosigkeit zu ergötzen, war vielleicht reizvoll, aber es war verdorben und gehörte sich nicht.
Zu seiner Verteidigung mag man anführen, dass Philip, soviel bekannt ist, keine bösen Absichten hegte und sich bloss die Zeit vertreiben wollte, die nutzlose Stunde, die er totschlagen musste, weil dieser Hahnloser ihn versetzt hatte und es zu früh war, um bei Belinda aufzutauchen. Und abgesehen davon braucht jede Begegnung eine erste Missachtung der Linie, die der Anstand um jeden Menschen zieht. Wer nur küsst, nachdem er dazu aufgefordert wurde, und wer nur geküsst wird, nachdem er sein Einverständnis gegeben hat, der wird niemals küssen und niemals geküsst werden. Wer etwas von der Welt erfahren will, einen Zugang zu den verborgenen Geheimnissen gewinnen, der muss durch die Tür gehen, unaufgefordert, er kann nicht warten, bis er die Erlaubnis erhält. Keine Geschichte, schon gar keine Liebesgeschichte, kommt ohne Übertretung aus. Keine Eroberung ist erfolgreich ohne die Anmassung. Falls Philip also diese Frau ansprechen wollte, was nicht sicher ist, dann musste er etwas tun, das zumindest zweifelhaft war.
Sicher ist hingegen, wie er sich von seiner Säule löste: ohne zu zögern, so plötzlich und unvermittelt, wie kleine Kinder eine Puppe fallen lassen. Nichts an ihnen, kein Muskel, keine Spannung verrät, dass sie im nächsten Augenblick die Hand öffnen werden, es gibt keine Vorwegnahme, keinen Gedanken vor der Bewegung – so löste sich Philip, so liess er sich von diesen Ballerinas, von diesen Füssen mitziehen in den Strom, der sich hinunter zur Oper ergoss.
Sie verschwand in der Menge, die sich an der Ampel staute, und Philip stellte sich mit ihr ins Gedränge, als bei Grün die Schleuse geöffnet wurde und sich die Menschen in Bewegung setzten, hinaus auf die Fahrbahn. Von der anderen Seite kam ihnen eine Wand aus Leibern entgegen, Mann gegen Mann, niemand wich zur Seite, und weil das Mädchen in der vordersten Reihe keinen Brecher vor sich hatte, der ihr eine Schneise geschlagen hätte, wurde sie nach rechts abgedrängt, aus Philips Sichtfeld, und im nächsten Moment hatte er sie schon verloren.
Auf dem Platz gegenüber wühlte ein zerlumpter Typ mit Bart und John-Deere-Mütze im Müll, einer in Anzug und Krawatte verschlang vornübergebeugt, damit das Fett seine Kleidung nicht bekleckerte, im Stehen eine Pizza. Und hätte sich Philip nur einige Sekunden zum See oder zum Kiosk gewendet, nichts wäre geschehen, er hätte sich zurück in die kurz unterbrochene Folge seiner Verpflichtungen gefügt und die pflaumenblauen Schuhe und das Mädchen bald vergessen – aber da er sich für einen Augenblick in Richtung Westen drehte, aus Zufall wohl, fand er die Frau erneut, beim Trinkbrunnen am Rande der Verkehrsinsel, wo er sie überraschte, als sie sich über das Becken beugte, den Rücken ihm zugewandt, in einer Pose, deren Menschlichkeit ihn berührte und die deutlich machte, wie sehr sie die Welt für einen Moment vergessen hatte und nicht darauf achtete, wie sie wirken mochte. Gerne hätte Philip ihren Mund gesehen; er stellte sich vor, wie sie die Lippen in den Strahl hielt und wie ihr die Wassertropfen über Kinn und Hals liefen. Ihr Gesicht konnte er nicht sehen, er sah nur, wie sie mit der linken Hand eine Haarsträhne festhielt und davor bewahrte, in das Becken zu fallen, wie sie einen Fuss leicht auf die Zehen stellte und wie die Ferse aus dem Schuh rutschte – eine leicht gerötete Ferse, wie Philip bemerkte, mit einem hautfarbenen Pflaster, damit die Naht die zarte Haut nicht reizte.
Da erschrak er über drei Pieptöne aus seiner Jackentasche. Es war Vera. Hahnloser habe sich verspätet, schrieb sie, er sei nun im Café und erwarte ihn. Und Philip, was tat er? Nichts. Er überging die Nachricht. Hahnloser konnte er auch nächste Woche treffen. Gewiss war diese Verspätung geplant, und Philip wollte ihm nicht das Gefühl geben, dass er am längeren Hebel sass. Jede Schwäche würde den Preis erhöhen. Und selbst wenn Hahnloser absprang und sich einen anderen Käufer suchte, wäre dies kein Unglück. Philip brauchte dieses Geschäft nicht, diesen abschüssigen Flecken am Rande einer Streusiedlung, wo man mit knapper Not eine Hütte für eine fünfköpfige Familie hinstellen konnte. Das war nur ein Zubrot, gemessen an Gran Canaria, wo er in achtundvierzig Stunden die letzten Einheiten verkaufen würde. Und Vera? Warum antwortete er ihr nicht? Weil er sie kannte. Bei Terminverschiebungen verlor sie regelmässig die Ruhe. Er hätte einen Grund angeben müssen, weshalb er diesen Hahnloser sitzen liess, Vera hätte auf der Stelle einen neuen Termin gesucht, den er hätte bestätigen müssen, er hätte sich in eine Kaskade von mindestens sieben Nachrichten verstrickt. Und dafür hatte er jetzt keine Zeit, jetzt musste er der Frau hinüber zur Brücke über die Flussmündung folgen.
Lukas Bärfuss
1971 in Thun geboren, arbeitet und lebt Lukas Bärfuss heute als Dramatiker, Romancier und Essayist in Zürich. Seine Stücke werden weltweit gespielt, seine Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. Der 45-jährige Autor legt mit «Hagard» wiederum einen packenden Roman vor. Der Erzähler ist einem Mann auf den Fersen, der eine Frau verfolgt. Diese ungehörige Anziehung erlebt der Leser im neuen Roman hautnah mit und spürt Bedrohliches.
Buch:
Lukas Bärfuss
«Hagard»
174 Seiten (Wallstein Verlag 2017).