Die Pfauenbühne ist voll. Ausgefüllt von einer riesigen schiefen Ebene, auf der 30 Jugendliche und junge Erwachsene auf- und abschreiten, wippen, in Gruppen die Hände falten oder rückwärts Richtung Publikum kriechen. Im Anzug, in Trainingsbekleidung oder schlicht im T-Shirt. «Jetzt, jetzt, jetzt» heisst die jüngste Regiearbeit von Suna Gürler, Hausregisseurin des Zürcher Schauspielhauses, wobei in diesem Stück die Choreografie ein zentrales Element ist. Was wir beim Probenbesuch sehen, ist ein bienenartiger, nach Synchronität strebender Tanz.
«Es geht um die Frage, wie Netzwerke entstehen und wie man einen gemeinsamen Nenner findet», erklärt Gürler. Kein einfaches Unterfangen: «Der Pfauen ist nicht für Ensembles konstruiert, sondern für Einzelpersonen, die dann ihren inneren Hamlet auspacken.» Tatsächlich: Nicht mal ein Bruchteil des Ensembles, das aus jenen jungen Menschen besteht, die sich über die vergangenen Jahre mit dem Schauspielhaus verbanden, hätte zum Beispiel in der winzigen Kantine Platz. Eine echte Gemeinschaft zu formen, kommt da einer Herausforderung gleich.
«Klassenzimmerstücke» sind Haugs Spezialität
«Jetzt, jetzt, jetzt» hat Gürler zusammen mit Yunus Ersoy (Dramaturgie), Alina Immoos (Spielleitung) und ihrem regelmässigen Autor Lucien Haug entwickelt. Gürler und Haug sind ein eingespieltes Team, seit sie beim Jungen Theater Basel gemeinsam ihre Sporen abverdient haben. Man darf da durchaus von einer Schweizer Talentschmiede reden. Und Haug hat sich über die Jahre zu einem der Produktivsten seiner Zunft entwickelt.
Nicht weniger als sieben Stücke von ihm sind in diesem Herbst zu sehen, unter anderem an den grossen Häusern in Basel, Zürich und am Burgtheater in Wien. Dabei fing alles klein an. Mit «Klassenzimmerstücken», einer Spezialität des 30-jährigen Autors, bei denen das jugendliche Ensemble nicht auf der Bühne steht, sondern zwischen Tischen und Bänken in nachgebauten oder echten Schulzimmern spielt. Es sei das Unmittelbare, das Überraschende, das ihn reize, und dass man eine Art Pädagogik betreibe, ob man wolle oder nicht.
«Die Spielerinnen und Spieler müssen die körperliche Nähe des Publikums zulassen und einen Weg suchen, sich in fremder Umgebung zu behaupten.» Das ist insofern eine Herausforderung, als es keine Musik, keine Beleuchtung und keine Nebelmaschinen oder Ähnliches gibt, sondern nur das Spiel und die Sprache.
«Dialekt kann alles, was Standardsprache kann»
Was auf den traditionellen Bühnen lange verpönt war, hat Haug in kurzer Zeit salonfähig gemacht – in Mundart zu sprechen. Besonders effektiv ist das in seiner Adaption von Sophokles’ «Antigone» am Theater Basel, wo er die Dialoge in Bern- und Baseldeutsch dem Ensembleduo Vera Flück und Sven Schelker auf den Leib geschrieben hat.
«Dialekt kann alles, was Standardsprache auch kann, obwohl man vielleicht denken würde, dass man mit nur zwei Zeitformen – Perfekt und Gegenwart – eher eingeschränkt ist», sagt Haug. Eine Schauspielerin habe mal zu ihm gesagt, dass sie diese Sätze nicht sprechen könne, ohne über sich selber zu lachen. «Aber genau das muss man aushalten und glauben, dass sich mit Mundart alles sagen lässt. Ich könnte in keiner anderen Sprache emotionaler sein als im Schweizerdeutschen, und das Theater ist ja ein Ort der grossen Emotionen.»
Der einsame Schreiber ist gern bei Proben dabei
Fast nebenbei erwähnt Haug, dass es ihm beim Stückeschreiben gar nicht darum gehe, den bestmöglichen Text zu verfassen, sondern vielmehr darum, eine Art Gebrauchsanweisung für das Schauspielteam zu liefern, Möglichkeiten und Wege aufzuzeigen.
Solche Anweisungen gibts auch bei den Proben auf der Pfauenbühne zu hören, wo gerade ein skurril anmutender Countdown heruntergezählt wird und die jungen Darsteller durch den Saal wuseln, um mit einem (noch) imaginären Publikum zu sprechen. «Lasst die Energie laufen! Spielt gegen die Musik!», ruft Regisseurin Gürler ins Mikrofon. Einige der Jugendlichen heben die Hand, um zurückzufragen: «Wie soll ich liegen? In welchem Loop sind wir?» Manchmal ist es schwierig, zu sagen, wo die Grenze zwischen Probe und Besprechung verläuft.
Haug verfolgt das Treiben gebannt. Später sagt er, dass er selbst sehr gerne probe. Warum? «Weil das Schreiben oft einsamer ist, als mir lieb ist. Wenn ich mich schreibend oder beratend in ein Kollektiv einbringe, schaffe ich mir einen Weg, um dieser Einsamkeit zu entfliehen.»
Aktuelle Stücke von Lucien Haug
Jetzt, jetzt, jetzt
Regie: Suna Gürler
Ist es Theater? Ist es Tanz? 30 Jugendliche nehmen die Bühne (und den Zuschauerraum) des Pfauens in Beschlag, um ohne eigentliche Textvorlage oder Hauptfiguren die Geschichte eines Netzwerks zu erzählen. Sie schaffen damit ein Gleichnis auf einen Ort – also den Pfauen –, der für die Gemeinschaftsbildung denkbar ungeeignet scheint.
Premiere: Do, 28.9., 20.00
Schauspielhaus Zürich
Amore United
Regie: Lucien Haug
Die Tür fliegt auf, herein stürmen drei Jugendliche. Mira (Julie Ilunga) versucht, zwischen Yves (Lorenzo Maiolino) und Gwen (Charlotte Lüscher) zu vermitteln, weil Letztere ihm eine Gabel in die Hand gestochen hat. Das «Klassenzimmerstück» ist Intensität pur. Als Zuschauer sitzt man im Tornado der Emotionen.
Mi/Do, 25.10./26.10., 20.00
Junges Theater Basel
Di, 31.10.–Do, 2.11., 18.00
Pfauen-Kammer Zürich
Antigone
Regie: Antú Romero Nunes
Sophokles auf Schweizerdeutsch: Antigone (Vera Flück) will ihren unehrenhaft gefallenen Bruder beerdigen, ihr Vater Kreon (Sven Schelker) ist aber dagegen. In der Folge wird über Recht und Gerechtigkeit gestritten. Das furiose Ensembleduo spielt nicht nur die Haupt-, sondern auch alle Nebenfiguren, während der Chor der Bürgerinnen und Bürger im Publikum sitzt.
Bis Fr, 29.12.
Theater Basel
Sing Me A Love Song!
Regie: Jackie Poloni, Sebastian Nübling
«Findest du mich hübsch? Denkst du oft an mich?» Sechs junge Erwachsene stellen sich der Frage, was Liebe ist. Sie tasten sich vor, reiben sich an Erfahrungen und Widersprüchen. Und nehmen die Stereotypen von Liebesballaden (etwa «Perfect» von Ed Sheeran) auseinander. Mit befremdendem Effekt.
Di, 3.10., 19.30 / Mi 4.10., 10.15
Theater Chur
Mo, 20.11., 10.00/19.00
Kurtheater Baden AG