Was ein grosser Maestro sein will, ist viel beschäftigt und hat keine Zeit für Plaudereien: «45 Minuten fürs Interview?! Oh, non, das geht nicht!» – 26 Jahre jung ist der in Lausanne geborene Lorenzo Viotti im März geworden, wirkt und spricht aber bisweilen schon, als wär er ein alter Hase. Seine Art werden gewisse Menschen als Arroganz deuten – andere als kühne Selbstsicherheit. Doch alsbald sagt er: «Ohne das Orchester bin ich nichts.» Das ist kein Kokettieren, sondern eine grundehrliche Aussage, die durchaus eine positive Verzweiflung zeigt. Die Hochachtung vor seinem Orchester ist riesig. «Immer gilt es, auf die Musiker zu reagieren, die Kultur des Orchesters zu erahnen», so Viotti. «Wenn ich einen Auftakt gebe und er funktioniert nicht, dann muss ich reagieren, etwas Neues aus dem Rucksack ziehen.»
Gesang und Perkussion
Seit dem Gewinn des «Nestlé and Salzburg Festival Young Conductors Award» im Sommer 2015 steht Lorenzo Viotti im Scheinwerferlicht der Klassikwelt. Dafür muss ein junger Dirigent aber erst mal gewappnet sein. Doch Viotti kennt das Geschäft. Sein Vater war der berühmte, 2005 verstorbene Dirigent Marcello Viotti. Die Mutter war es allerdings, die von Anfang an sagte: «Lorenzo wird Dirigent.» Der Vater war skeptischer, hatte Angst, dass sein eigener Schatten zu gross für den Sohn werden würde. Heute kann Lorenzo sagen, dass er glücklicherweise zu jung war, um seinen Vater zu kopieren. An den Vater als Dirigenten möchte er sich am liebsten gar nicht erinnern.
Wenn er einst mit ihm verglichen wird, ist er darauf gefasst. Lorenzo Viotti studierte Gesang, weil er spüren und verstehen wollte, was ein Sänger braucht. Er lernte in Wien Perkussion, da er im Orchester sitzen und dessen Psychologie analysieren wollte. Er sang im Chor, um zu verstehen, wie Sänger atmen. Und immer wieder sass er stundenlang in Orchesterproben der grossen Meister, bei Georges Prêtre oder Mariss Jansons, dachte mit, war nach drei Stunden genauso erschöpft wie der «echte» Maestro vorne am Pult.
Die Kraft der Neugierde
Gelassen sagt er, dass er keine Angst haben werde, wenn dereinst die Berliner Philharmoniker vor ihm sitzen. «Das Podium ist die einzige Position, auf der ich mich zu Hause fühle. Natürlich bin ich von der ersten Note an elektrisiert, aber das ist nicht Angst, sondern Ungeduld. Ich will dann endlich die Augen der Musiker sehen – und loslassen. Das ist der schönste Moment, den es in meinem Leben gibt.»
Das ist Zukunftsmusik, denn noch will er nicht vor die Top-Ten-Orchester treten und lehnt viele hochkarätige Engagements ab. Viotti bekennt stolz, dass er alle Zeit der Welt habe, Karriere zu machen. «Die Leute respektieren das oder nicht, es ist mein Leben. Man kann mit 25 nicht die Münchner Philharmoniker dirigieren. Das ist eine Falle, es ist psychologisch schlecht – und künstlerisch noch schlechter. Wenn einer mit 25 Jahren gar vor den Wiener Philharmonikern steht oder mit 30 alle Mahler-Sinfonien aufnimmt, was macht er mit 50? Was mit 70? Wo finde ich dann die Kraft und die Neugierde?»
Die Einsamkeit
So dirigiert er denn in seiner Geburtsstadt Lausanne, in Jena oder Nizza – und bald in Luzern: An diesen Orten will er sich täglich verbessern, bleibt unerbittlich, ist er doch keiner, der einfach durchspielen lässt. «Es gibt Dirigenten, die das tun, weil sie von den Musikern geliebt werden wollen. Wer so denkt, hat schon verloren», sagt Viotti und fügt an: «Wir Dirigenten sind einsam – ob die 80 Musiker nun für oder gegen uns sind.» Als Dirigent dürfe er sich keine Gedanken darüber machen, ob die Musiker ihn mögen oder nicht. «Aber ich muss sie noch viel mehr respektieren als mich selbst», ist er überzeugt. «Wir sind nackt vor den Musikern und müssen nackt bleiben. Wir können auch nicht einmal dieses, einmal jenes Kleid für dieses oder jenes Orchester anziehen.»
Zwischen Orchester und Dirigent sei es wie zwischen zwei Menschen. «Wenn wir uns privat in einem Kaffeehaus treffen und uns in die Augen schauen, wissen wir spätestens nach fünf Minuten, ob es mit uns klappt oder nicht», sagt Lorenzo Viotti. Genauso verhalte es sich mit einem Orchester und einem Dirigenten. Doch wie kann er nachhelfen, damit es klappt? «Gar nicht», antwortet er. Das sei das schwierigste am Ganzen. «Den Takt schlagen, das kann jeder, doch das hat noch nichts mit Dirigieren zu tun.»
Nach jeder Probe macht er für sich eine Analyse, fragt sich: Was kann ich verbessern? Wie sage ich den Musikern etwas, damit sie es wirklich verstehen? Was mache ich, wenn die Konzentration des Orchesters sinkt? Warum ändert sich plötzlich der Klang?
Nach 25 Minuten Gespräch steht er auf und muss los. Egal. Von Viotti wird man noch viel hören. Sein Traum ist es, mit 80 noch zu dirigieren.
Konzert
So, 8.5., 11.00 KKL Luzern
«Peter und der Apfelschuss»
Lorenzo Viotti dirigiert das Luzerner Sinfonieorchester