In meinen Büchern passiere nicht besonders viel, bekomme ich des Öfteren zu hören. Eine Kollegin sagte mir vor Kurzem, dass sie mein Buch in zwei Tagen gelesen habe. Ich verstand es als Kompliment. Sie nickte. Mein Buch habe ihr gefallen, weil es keine Handlung habe. Bücher mit Handlung hält sie für überschätzt. Ich finde nicht, dass in meinen Büchern auffallend wenig passiert, aber bloss weil ich sie geschrieben habe, macht mich das noch nicht zum Fachmann.
Es ist ein verbreiteter Irrtum, dass Autoren sich mit ihren eigenen Büchern besonders gut auskennen. Oft ist das Gegenteil der Fall. Bücher sollten klüger sein als ihre Autoren. Meine Romane, davon bin ich überzeugt, haben mehr zu erzählen als ich. Sie stellen Verbindungen her, die ich nicht mitbedacht habe, sie wecken Assoziationen, auf die ich nicht im Traum gekommen wäre. Ob viel Handlung oder wenig, sei dahingestellt, hin und wieder begeben sich meine Protagonisten auf eine Reise und landen an Orten wie Locarno, Griechenland oder Australien.
Kürzlich bin ich nach einer Lesung aus meinem jüngsten Roman gefragt worden, ob ich Tansania, über das ich schreibe, kennen würde. Ich zögerte. Wer konnte mit gutem Gewissen behaupten, ein Land zu kennen? Aber so war die Frage nicht gemeint, also nickte ich. Ja, ich hatte eine Reise nach Tansania unternommen, das war allerdings lange her, sehr lange.
Damals hatte ich noch keine Ahnung, dass sich einst einer meiner Protagonisten in Daressalam aufhalten würde, um sich mit einem chinesischen Geschäftsmann zu treffen, der ihm drei Tonnen Rohschlüssel abkauft.
Dass mein Besuch in Tansania so lange her war, machte es möglich, dass ich mich beim Schreiben gleichzeitig an die Schauplätze erinnerte und sie erfand. Die Mischung aus Erinnerung und Erfindung ist eine gute Voraussetzung für Literatur. Wenn ich nur erfinde, kann es passieren, dass der Geschichte anzumerken ist, dass ich keinen Bezug zu ihr habe. Sie gerät zu flach, dagegen helfen weder ausgefallene Adjektive noch akribische Beschreibungen.
Ist die Erinnerung jedoch zu präsent, hindert sie mich am Erfinden. Das zeigt sich ganz besonders, wenn ich aus dem Moment heraus schreiben will, unmittelbar, wenn ich etwas erlebe oder beobachte, wenn ich mich freue oder ärgere, traurig oder glücklich bin. Wenn ich den Drang verspüre, etwas gleich aufzuschreiben, gelingt es nie. Bis meine Finger auf der Tastatur liegen, hat der Gedanke, der mich eben noch an den Schreibtisch trieb, bereits zum nächsten und übernächsten geführt.
Die Gegenwart ist eine Überforderung. Alles ist mit allem verbunden. Ein Alltagserlebnis verknüpft sich mit dem Buch, das ich gerade lese. Der Artikel aus der Zeitung kommt mir dazwischen.
Das Radiointerview mit der Skifahrerin und die Werbung aus der Strassenbahn, alles gehört irgendwie zusammen, die Politik, die Wirtschaft, die Gesellschaft, die Familie, und es ist unmöglich, alles gleichzeitig auf den Punkt zu bringen. Spielen dann noch Emotionen hinein, bin ich endgültig verloren. Der Ärger kocht hoch, die Wut entlädt sich, es zeigt sich Hoffnung am Horizont, die vielleicht doch nicht vergeblich ist, Freude bricht aus, ein Anflug von Glück, vielleicht sogar Liebe, wie sollen daraus vernünftige Sätze entstehen? Eine Carte blanche ist ein Versprechen. Ich kann schreiben, was ich will, endlich zu Papier bringen, was mich umtreibt, was mir unter den Nägeln brennt.
Aber wo beginnen? Fange ich in der Ukraine an, versetzt es mich sogleich in das Jahr 2012 zurück, als ich mit N. in Wien den Zug nach Budapest bestieg. Nach einem Bahnhofswechsel fuhren wir durch ganz Ungarn bis an die ukrainische Grenze. Ein Zug, der aus nur einem Wagen bestand, brachte uns über den Fluss und schloss die Lücke zwischen Regelspur und Breitspur. Beim Umsteigen schaute uns die ukrainische Schaffnerin verständnislos an, weil wir keine Platzkarten hatten. Was sollte sie mit unseren Fahrkarten, wenn wir keinen Platz im Zug hatten? Wir verbrachten die halbe Nacht bis Lemberg in ihrem Abteil, das sie uns für einen kleinen Aufpreis überliess.
Für die zweite Hälfte der Nacht konnten wir die erforderlichen Platzkarten vorweisen. Wir schliefen einige unruhige Stunden, bis wir kurz vor sechs Uhr morgens in Czernowitz ankamen, wo T. uns erwartete. Fange ich beim Klima an, fallen mir meine Grosseltern ein, die auf kleinem Fuss lebten, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden. Sie kamen in ihrem Leben nicht auf die Idee, zu fliegen, weil Flugzeuge etwas für Grossindustrielle und Politiker waren, aber nichts für die Ferien. Sie wohnten in einer Genossenschaftswohnung auf 50 Quadratmetern, hatten nie ein Auto, sondern ein Mofa, und das Gemüse kam nicht aus Marokko oder Südafrika, sondern aus dem Schrebergarten.
Aber leben wie meine Grosseltern, das kann ich nicht, selbst wenn ich es wollen würde. Das 20. Jahrhundert ist vorbei, und das nicht erst seit gestern. Die Gegenwart überfordert mich, weil ich sie ernst nehmen muss. Wer die Gegenwart nicht ernst nimmt, ist zynisch. Und vor Zynismus schrecke ich zurück. Er scheint mir ein schlechter Ratgeber für das Leben und die Literatur zu sein. Vor der Gegenwart kann ich nicht zurücktreten und sie in aller Ruhe betrachten. Ich kann keine ironische Distanz zu ihr einnehmen.
Sie ist immer da und überall. Und sie muss ernst genommen werden, unter allen Umständen. Vielleicht eignet sie sich deshalb nicht für Literatur. Vor Kurzem habe ich in einer Ausstellung ein Zitat von Albert Einstein gelesen: Nimm alle Dinge wichtig, aber keines richtig ernst. Ich bin nicht ganz sicher, ob ich ihm zustimme, aber ich glaube schon.
Lorenz Langenegger
Der 1980 geborene Zürcher Lorenz Langenegger hat einige Semester Theater- und Politikwissenschaft studiert. Neben zahlreichen Arbeiten fürs Theater und fürs Fernsehen («Tatort» u. a.) hat er bislang fünf Romane veröffentlicht. Zuletzt ist von ihm «Was man jetzt noch tun kann» im Verlag Jung und Jung erschienen. Der Autor lebt in Zürich und ist Mitglied der Autorengruppe «Die Autören».