An einem aussergewöhnlich sonnigen, aber ansonsten unspektakulären Tag brach auf der Pont des Arts ein Stück des Geländers unter dem Gewicht der daran befestigten Liebesschlösser zusammen.
Und so ergoss sich unter blauem Himmel ein bunter Regenschauer metallisch blinkend über die Seine und über ein Boot voller Touristen, das in diesem Moment gerade die Brücke passierte.
Der frisch verheiratete Frédéric aus Lausanne stand mit seiner Spiegelreflexkamera am Heck des Boots und linste durch den Sucher, als ihm etwa ein Dutzend der Schlösser – darunter sein eigenes, das er mit seiner Frau Chloé erst am Tag zuvor dort angebracht hatte – den Schädel zertrümmerten. Er war sofort tot.
Der Zwischenfall blieb nicht ohne Folgen. Die Liebesschlösser seien eine Gefahr für die Öffentlichkeit, riefen die einen. Die anderen postulierten einen Verfall der Kulturnation. Das grossartige Frankreich roste unter der Last des Massentourismus weg. Die Pariser Regierung sah sich zum Handeln gezwungen.
Nur wenige Wochen nach dem tragischen Ereignis, an einem trüben Aprilmorgen, wies die Pariser Polizei alle Touristen von der Brücke und verstellte die Aufgänge mit Absperrgittern. Ein Polizist stand zuletzt allein in der Mitte über dem Fluss und bestaunte die freie Sicht auf die abertausenden funkelnden Metallbeschläge.
Die bunten Schlösser hingen dicht an dicht, über- und ineinander verhängt, wie der Schuppenpanzer eines regenbogenfarbenen Fabeltieres. Schon allein deshalb musste man sie von Hand entfernen, wollte man grössere Schäden am denkmalgeschützten Bauwerk vermeiden.
Ausserdem schien es der Regierung ratsam, die Liebenden nicht allzu sehr aufzubringen. Sorgfältige Beamtenhände schienen eher angebracht als der Greifarm eines Baukrans, der meterweise Geländer aus den Halterungen reissen würde.
Also reihten sich nach der Räumung Dutzende von Angestellten der Stadtverwaltung den eisernen Handläufen entlang auf, den Werkzeuggürtel voller Zangen und Bolzenschneider in verschiedensten Grössen umgeschnallt.
Sie fuhren mit den Fingern über die Verschlussbögen, prüften deren Stärke und wählten das entsprechende Werkzeug aus. Um kurz vor halb zehn war das erste scharfe Klicken über der Seine zu hören.
Magdalena war nervös. Sie betrachtete ihr Spiegelbild im Fenster des Metrozuges der Linie 5. Sie verliessen gerade die Station Oceania. Wenige Meter über ihr rauschten Tausende von Autos auf der sechsspurigen Autobahn in Richtung des sternförmig angelegten Barrio Federal.
Sie sah ihr Spiegelbild in der Scheibe plötzlich verschwinden, als sie einen anderen Zug kreuzten. Das kräftige Orange blendete sie beinahe. Die Waggons rauschten ratternd an ihr vorbei, die erleuchteten Fenster blitzten auf. Nur die silbergraue Linie, die quer über die ganze Aussenwand des Zuges verlief, schien stillzustehen, wie Magdalena selbst.
Dann war es vorbei, und sie begegnete wieder ihrem plötzlich so klaren Blick. Ihr Zug wurde bereits wieder langsamer – «Terminal Aérea». Die Türen öffneten sich zischend. Sie wartete ruhig, bis das Warnsignal ertönte, das darauf hinwies, dass sich die Türen gleich schliessen würden.
Im letzten Moment schlüpfte sie aus dem schmaler werdenden Türspalt und liess Javier verdutzt zurück. Er starrte ihr durch die schmutzige Scheibe nach, als der Zug sich in Bewegung setzte. Sie drehte sich nicht um und lief los in Richtung Ausgang. Ein Lächeln machte sich auf ihrem Gesicht breit, und sie genoss das Echo ihrer Schritte in der grossen Halle, die sich vor ihr auftat.
Das Schloss fiel klackend auf den Bretterboden der Brücke. Klick, klick, klick, klick machte es nun, immer gefolgt von dumpfem Poltern von Metall auf Holz.
Reflexartig warf Alma in Tel Aviv Ezekiels Zahnbürste in den Mülleimer, Trevor in Memphis befand, er habe genug, und verwarf die Hände, während Tom in Zernez weinend am kleinen Güterbahnhof vorbei auf die Brücke über den Inn lief, der Himmel über ihm ein tiefes Grau.
Gleichzeitig stand Annette auf einem Tennisplatz in Kapstadt mit Blick auf den Tafelberg und sagte ins Telefon: «Ruf mich bitte nicht mehr an.» Dann legte sie auf.
Klick, klick.
Mijo konnte nicht sofort sagen, was es war. Er konnte den Gedanken zunächst nicht ganz fassen. Er sass in Zadar in einer Vorlesung und hörte nicht mehr, was die Dozentin sagte. Gerade hatte er eine Nachricht bekommen, eine an sich ganz banale. Es ging um die Frage, ob er schon einkaufen gewesen sei und ob er an den Reis gedacht habe und wenn nicht, dann solle er doch bitte auf dem Heimweg noch ein Kilo holen.
Und dann machte sich ein Gefühl der Enge in seiner Brust breit, gefolgt von einem furchtbar schlechten Gewissen Toma gegenüber, weil sein Unterbewusstsein schon lange verstanden hatte, was er sich selbst gegenüber noch nicht zuzugeben bereit war. Es sollte ihn einige Tage später stark erleichtern, als er feststellte, dass Toma exakt dasselbe Gefühl verspürte.
Zur Person
Lorenz Häberli ist Autor und Musiker. Er hat Geschichte und Germanistik an der Universität Fribourg sowie Literarisches Schreiben an den Literaturinstituten in Biel und Leipzig studiert.
Heute schreibt und singt er Lieder für das erfolgreiche Popduo Lo & Leduc und ist Teil der Kreativwerkstatt Atelieer. Anfang 2025 ist er zusammen mit Luc Oggier und dem zweiten Spoken-Word-Programm «Countdown» auf Lesetour.