Ein überladener Tisch, vier Stühle und Mikrofone auf der Bühne – mehr nicht. Auf dem Tisch kullert eine feuerrote Peperoni, daneben liegen ein Haartrockner, eine halb volle Wasserflasche, eine Konservendose (Erbsen und Rüebli!) und Instrumente. Das Sammelsurium macht deutlich, dass hier kein herkömmliches Schauspiel aufgeführt wird. Vielmehr ist in der Lokremise St. Gallen ein Live-Hörspiel angesagt.
Da springen die Schauspieler auf die Bühne. In Alltagskleidung, als seien sie auf dem Weg in eine Cafébar. Kaum sind sie in ihre Rollen geschlüpft, erfährt der Zuschauer eine haarsträubende Geschichte: Ein Förster hat einen toten Hund ins Veterinäramt des Kantons St. Gallen geschleppt. Wie eine Furie habe sich das zottelige Tier auf ihn gestürzt, erzählt der Förster. Er habe vier Schüsse gebraucht, um es zu erledigen.
Die Virologin tippt auf Tollwut und beginnt mit der Untersuchung. Blutprobe. Gewebeprobe. Speichelprobe. All das kriegt der Zuschauer über die live produzierten Geräusche auf der Bühne mit und über die vor sich hin gemurmelten Worte der Virologin. Dann hält die Wissenschafterin plötzlich inne. Sie hat den Gebissabdruck entdeckt, über welchen sich der Hund ansteckte. Dieser stammt nicht etwa von einem Tier, sondern von einem Menschen.
Ein Virus wird zur Zeitbombe
Die «LiveHörSpielSerie: Nekropolis – Die Stadt gehört uns!» dreht sich um einen Mann, der mit Tollwut angesteckt wird. Der Erreger schlummert in ihm und verändert sich über die Jahre. Es mutiert zu einem Virus, das den Mann in eine hochinfektiöse Zeitbombe verwandelt. Jeder, den er von nun an beisst, wird zu einer Art Zombie – zu einem aggressiven, gewalttätigen Etwas, das zwar noch menschlich ist, aber nicht mehr human agiert.
Der gebissene Mann ist der Ansicht, dass die Zivilisation den Menschen zu einem zahmen Geschöpf gemacht habe. Er möchte ihn wieder zu einem Wolf werden lassen, ihn auf einen einzigen Instinkt reduzieren – nämlich zu töten. Denn der hirntote Zombie ist aggressiv. Das Stück ist als Kritik an der Moderne zu verstehen – und will zum Denken und Schmunzeln gleichzeitig anregen.
Insgesamt vier Folgen in verschiedenen Städten
In St. Gallen wird nun die zweite Folge der «LiveHörSpielSerie» gezeigt. Die erste Folge wurde in Konstanz aufgeführt, die zweite Folge spielt in St. Gallen, die dritte in Aachen, die vierte in Saarbrücken. Jede Folge erzählt eine neue Story mit wiederum neuen Figuren, knüpft aber durch Zitate und Anspielungen an die vorhergehende Folge an.
Das konstante Element von «Nekropolis – Die Stadt gehört uns!» ist die Figur des DeeJay, seines Zeichens der mieseste Radiomoderator aller Zeiten. DeeJay arbeitet bei Radio Paranoia. Zu Beginn jeder Folge ruft eine Person im Sender an, die an einer paranoiden Störung leidet. Daraus ergibt sich die jeweilige Geschichte. Die Autorin des Stücks, Anita Augustin, brachte mit dem Regisseur Eike Hannemann schon viele Live-Hörspiele auf die Bühne (unter anderem «Der Weisse Hai» und «Winnetou»).
Nur: Was ist der Reiz, ein Live-Hörspiel zu produzieren? Wieso haben seine Macher diese Geschichte nicht als Schauspiel inszeniert? Dazu sagt Augustin: «Weil das Hörspiel ein tolles Format ist, das viele Dinge möglich macht, die im Schauspiel nicht gehen.»
Schnelle Ortswechsel –keine Bühnenbilder
Es habe den Vorteil, dass man vier Schauspieler beliebig viele Figuren spielen lassen kann. So übernimmt jeder Schauspieler mehrere Charaktere, indem er zum Beispiel den Dialekt, den Akzent oder die Stimmlage wechselt. Dazu kommt, dass Ortswechsel ein Kinderspiel sind. Man muss keine Bühnenbilder austauschen, kann sich gut und gerne für eine Szene nach New York fliegen lassen und ein paar Minuten später wieder auf der hiesigen Bühne landen. Dafür braucht es lediglich die Ansage des Piloten und das Geräusch eines dröhnenden Flugzeugs.
Peperoni statt Knochen brechen
Das Eindrücklichste am Live-Hörspiel ist, dass sich mit Alltagsgegenständen fast jedes Geräusch nachahmen lässt. «Wenn man zum Beispiel eine Peperoni zerbricht, klingt das, als würde ein Knochen brechen», sagt Augustin. Wenn man eine PET-Flasche mit Wasser sanft hin und her schwenke, meine man, die Wellen des Bodensees klatschten sachte ans Ufer. Und wenn man eine Konservendose öffnet und den Inhalt auskippt, tönt das, als quellten die Gedärme aus einem aufgeschlitzten Bauch heraus. Auch die Instrumente lassen sich unkonventionell einsetzen: So lässt sich mit dem Blasebalg eines Akkordeons der furchteinflössende Atem eines Zombies nachstellen.
Das Live-Hörspiel ist ein Experiment. «Vieles entsteht erst während der Proben mit den Schauspielern zusammen», sagt Augustin. Möglicherweise lieben die Schauspieler diese Arbeitsweise deshalb so sehr. Vielleicht auch, weil das Hörspiel wegen des hohen Tempos und der verschiedenen Rollen anspruchsvoll und witzig zugleich ist.
Auch für den Zuschauer: Es ist toll, den Schauspielern bei ihrer Arbeit zuzuschauen, den schnellen Dialogen zu lauschen und für einmal Zeuge zu sein, mit welch einfachen Mitteln all die Geräusche entstehen.
Nekropolis – Die Stadt gehört uns!
Folge 2: «Bite Club»
Premiere: Do, 27. 4., 20.00
Lokremise St. Gallen