Das Leben schreibt faszinierende Geschichten. Oft gibt aber erst eine grosse Portion Fantasie einer wahren Geschichte den entscheidenden Kick. Das stellt auch der exzentrische Abenteurer Louis de Montesanto fest, den der Schriftsteller Michael Hugentobler in seinem Debütroman «Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte» porträtiert. Der Grat zwischen Fakt und Fiktion sei schmal und vor allem unnötig, findet sein Protagonist: «Die einzig zulässige Version der Wahrheit sei jene, die den Leser sofort in ihren Bann ziehe, die auf die Sehnsüchte der Menschen abziele – nach Grösse, Humor und Stärke in diesem tristen Leben», heisst es im Buch.
So verkauft der klein gewachsene Lebemann mit dem grossen Ego im Jahr 1898 seine abenteuerliche Lebensgeschichte einem Londoner Magazin in aufgepeppter Form: Louis erzählt, wie er Jahrzehnte bei den Aborigines gelebt hat – und als Gott verehrt wurde. Wie er in Australien Krokodile erschlagen, eine Schildkröte geritten oder einen Hai mit einem Füllfederhalter getötet hat. Seine Geschichte schlägt ein: Er bekommt Angebote von Buchverlagen und Heiratsanträge, gibt Autogramme und lässt sich als Wachsfigur für Madame Tussaud modellieren.
Ein Lebenskünstler und Lügenbaron
Was der Hochstapler verschwiegen oder zu seinen Gunsten umgedichtet hat, geht vorerst im Medienrummel unter: Louis ist kein französischer Adelsmann italienischer Abstammung, wie er behauptet. Er ist als Hans Roth in ärmlichen Verhältnissen in einem Schweizer Bergdorf aufgewachsen. Der Lebenskünstler entflieht der Enge, schlägt sich mit viel Fantasie und Dreistigkeit durchs Leben und landet tatsächlich in Australien, wo er mit einer Eingeborenen eine Tochter zeugt. Bald entzieht er sich der Verantwortung, wie er auch später seine Ehefrau und den Sohn verlässt, als er in Sydney dem eintönigen Alltag entflieht. Der Freiheitsdrang geht ihm über alles. Doch irgendwann fliegt der Lügenbaron auf. Seine ehemaligen Fans und die Presse fällen vernichtende Urteile über ihn.
Michael Hugentobler gelingt mit seinem leichtfüssigen Schelmenroman ein wunderbares Debüt mit feinem Witz. In seinen detailreichen und lebendigen Beschreibungen wird spürbar, dass der 1975 in Zürich geborene Autor selbst 13 Jahre lang als Globetrotter unterwegs war und den Duft der weiten Welt eingesogen hat. Auf die historisch verbürgte Geschichte des Schweizer Abenteurers Henri Louis Grin ist er in einem Antiquariat gestossen: Er hat «The Adventures of Louis de Rougemont As Told by Himself» (1899) verschlungen und sich schliesslich auf Louis’ Spuren begeben. Seine Suche führte ihn bis nach Westaustralien, zu einem Stamm namens Martu, wo er sich mit einer älteren Dame anfreundete. Von dieser erfuhr er, dass man sich die Geschichte eines weissen Mannes erzählt, der vor vielen Jahren unter ihnen gelebt haben soll. Ein Grund mehr für den Autor, sich dieser Abenteuergeschichte zu widmen und sie lustvoll auszuschmücken.
Hugentoblers Reiseerfahrungen fliessen nicht nur in seinen Roman ein, sondern auch in seine journalistischen Texte für «Die Zeit» oder «Das Magazin». Eine klare Rollentrennung liegt ihm am Herzen: «Als Journalist halte ich mich eisern an die Wahrheit und mag dies sehr; aber als Romanautor liebe ich auch die grenzenlose Freiheit, die das Fabulieren zulässt», sagt er. Hugentobler selbst ist heute sesshaft und lebt mit seiner Familie in Aarau. Durch das Schreiben begibt er sich aber nach wie vor auf fantastische Reisen.
Literarische Stimme
Ein Jubiläumsfest mit Altmeistern und neuen literarischen Stimmen: Die 40. Solothurner Literaturtage warten mit einem vielfältigen Programm auf. Die Schweizer Autoren Franz Hohler und Hans-jörg Schneider, Peter Stamm und Melinda Nadj Abonji oder der marokkanische Autor Mahi Binebine lesen aus ihren Werken ebenso wie die Jungtalente
Judith Keller (siehe S. 27), Yael Inokai oder Fatima Moumouni. Über 70 Schreibende aus Belletristik, Lyrik, Spoken Word und Kinderliteratur sowie Übersetzerinnen sind in Lesungen und Diskussionen zu erleben.
Solothurner Literaturtage
Fr, 11.5.–So, 13.5.
Infos unter: www.literatur.ch
5 Fragen an Schriftsteller Michael Hugentobler
«Ich wusste nicht, wie man ein Känguru kocht»
kulturtipp: Sie sind selbst 13 Jahre lang auf Reisen in Südamerika, Asien, Afrika und Ozeanien gewesen. Wie viel «Louis» steckt in Ihnen?
Michael Hugentobler: Louis war zu einer Zeit unterwegs, als der Durchschnittsbürger noch nicht reiste. Adelige und Halbadelige begaben sich auf Bildungsreisen, aber für Menschen aus ärmlichen Verhältnissen gab es diese Möglichkeit nicht. Das Planlose an Louis’ Unterwegssein ist etwas Modernes, und das teile ich mit ihm. Ansonsten gibt es zwischen uns wenig Gemeinsames.
Ihr Wissen haben Sie sich unter anderem auf Ihren Reisen, etwa bei den Aborigines, angeeignet. Welche Erlebnisse fliessen in den Roman ein?
Ich wusste nicht, wie man ein Känguru kocht oder einen Waran fängt. Ich wusste auch nicht, wie Maden schmecken. Und da ich gerne über Dinge schreibe, die ich selbst erlebt habe, reiste ich zur Recherche nach Westaustralien – einige dieser Erfahrungen flossen in die Geschichte ein.
Was hat Sie so fasziniert an diesem exzentrischen Abenteurer und Hochstapler, dass Sie ihn näher kennenlernen wollten?
Im ersten Moment sah ich Louis als jemanden, der auf fast schon schamlose Weise seine Freiheit einfordert. Er lässt sich nicht vorschreiben, welchen Namen er zu tragen habe oder welche Charaktereigenschaften von ihm erwartet werden. Gepaart mit seiner funkensprühenden Fantasie erschien mir ein solcher Charakter sperrig, unbequem und unglaublich verlockend.
Sie machen es in Ihrem Roman wie Ihr Protagonist, schmücken Biografisches mit Fantastischem aus. Wo halten Sie sich an die Fakten, wo an die Fiktion?
Mein Kopf ist voller Erinnerungen an Menschen, Orte und Geschichten. Basierend auf Louis’ wahrer Geschichte, habe ich aus vielen verschiedenen Elementen etwas Neues erschaffen. Aber welche dieser Elemente nun historisch belegbar sind, welche ich selbst erlebt habe oder welche meiner Fantasie entsprungen sind, kann ich im Nachhinein nur teilweise rekonstruieren. Es ist ein buntes Durcheinander.
Ihr Protagonist gerät schon im 19. Jahrhundert ins vernichtende Räderwerk der Medien, die ihn zuerst hochjubeln und dann als Lügner entlarven. Ein Seitenhieb des Schreibers auf heutige Medien in Zeiten von Fake News?
Fake News waren während keiner Zeit des Schreibens im Hinterkopf. Den Roman habe ich bereits im Sommer 2016 fertiggestellt, und der Begriff Fake News wurde erst etwa ein halbes Jahr später populär. Ich bin aber der Ansicht, dass sich Journalisten auf ihre Kernaufgabe konzentrieren sollten: Fakten aufzuzeigen, ohne dabei zu Richtern und Henkern zu werden.
Lesungen an den Solothurner Literaturtagen
Sa, 12.5., 11.00 Kino im Uferbau
So, 13.5., 15.30 Aussenbühne Landhausquai (Kurzlesung)
Michael Hugentobler
Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte
192 Seiten
(dtv 2018)