Hier blühen nicht nur die Magnolienbäume, sondern auch die Schreibideen: Im idyllischen Park vor dem Schweizerischen Literaturinstitut herrscht an diesem Morgen noch Ruhe, in der Jugendstil-Villa aber bereits geschäftiges Treiben. Der Kaffeeautomat brummt im Minutentakt, und über die knarrenden Holztreppen hinweg rufen sich die Studenten morgendliche Begrüssungen und Frotzeleien zu. Der Eingangsbereich ist zugleich die Hall of Fame: An den Wänden sind die aktuellen Bücher der Absolventen aufgereiht, ein «who is who» der jungen Literaturszene: Werke von Dorothee Elmiger, Arno Camenisch, Michael Fehr, Simone Lappert, Matthias Nawrat und weitere bekannte und weniger bekannte Namen.
Geschärfter Blick
Am Eingang warten zwei Nachwuchsautoren: Die 26-jährige Baslerin Baba Lussi und der 28-jährige Winterthurer Manuel Naef, beide leicht nervös – nicht nur wegen der Journalistin. Denn heute werden ihre Texte im Seminar «Wiese» besprochen. Der Kurs unter der Leitung von Verleger Urs Engeler läuft aber gemächlich an. Die drei jungen Frauen und vier Männer müssen erst in Fahrt kommen. «Worüber sprechen wir?», fragt der Dozent, nachdem ein Student Naefs Text «VonWegen» vorgelesen hat, und wartet geduldig, bis Baba Lussi das Schweigen bricht. Sie weist auf den Konjunktiv im letzten Satz hin und setzt damit eine Diskussion um die Hauptfigur Wolf in Gang: Ist er wirklich der, der er behauptet zu sein?
Die Runde ist ein eingespieltes Team, fast familiär die Atmosphäre, der Ton ist freundschaftlich, auch bei Kritik. Engeler lässt die Studenten ihre Beobachtungen machen, hakt nach, wenn etwas unklar bleibt. Sie zeigen ein gutes Gespür für Textdetails – die Arbeit über mehrere Semester trägt Früchte, der Blick ist geschärft.
Nach einer halben Stunde gesellt sich der achte im Bunde zur Literaturrunde, verschlafen tappt er in den Seminarraum und versteckt sich unter seiner Dächlikappe, bis er sich am Gespräch beteiligt: Hier muss niemand, dennoch ist das Engagement meist spürbar. Das hebt auch Dozent Urs Engeler in der Pause hervor: «Es ist erstaunlich, wie schnell sie oft auf den Punkt eines Textes kommen. Besonders, wenn es ihre eigenen Arbeiten oder solche von Kollegen sind, wird sehr aufmerksam gelesen.» Oft werde kontroverser diskutiert als heute. Das bestätigen Baba Lussi und Manuel Naef, beide im vierten Semester, beim Mittagessen auf dem Balkon des Instituts. «Sonst knallt es bei Diskussionen immer mal wieder, etwa bei Gender-Fragen. Heute war es sehr eingespielt – ich dachte, mein Text stosse auf mehr Unverständnis», sagt Naef und zeigt sich ernüchtert, dass seine Geschichte weniger ausgelöst hat als erhofft. Umgekehrt hätte Lussi mehr Verständnis für ihren Text erwartet. Sie hat noch an der Aussage eines Mitstudenten zu knabbern, der enttäuscht gewesen ist, dass sich am Schluss alles so gut zusammenfügt hat.
Anfängliche Zweifel
Das Diskutieren über eigene und fremde Texte steht nebst dem Schreiben im Zentrum des Studiums. Das war der Hauptgrund, warum die beiden sich für das Literaturinstitut entschieden haben. «Ich hatte zu wenig Austausch mit Schreibenden», sagt Manuel Naef.
Die zwei kommen aus unterschiedlichen Ecken: Während Naef das Gymnasium abgebrochen und eine Lehre als Steinbildhauer abgeschlossen hat, hat Lussi Germanistik und Kulturwissenschaft bis zum Bachelor studiert. Er sei der Idee des Instituts am Anfang sehr skeptisch gegenübergestanden, gesteht Naef. «Dass das Institut Werbung damit macht, Autor zu werden, ist mir suspekt.» Inzwischen schätzt er die «Salon-Atmosphäre», die intensive Text-Arbeit. «Tendenziell wird mir aber zu viel über Leserfreundlichkeit gesprochen.»
Seine Hauptangst, dass das Institut zu sehr auf den Markt ausgerichtet sei, habe sich dennoch nicht bestätigt. «Die Vermarktung ist nur am Rande ein Thema», betont auch Lussi. «Im Zentrum des Studiums steht für mich ebenfalls der Text. Im Gegensatz zu Manuel fände ich einen ‹Survival-Guide›, wie man mit der Lebenssituation als Autorin umgehen kann, frühzeitig im Studium aber gar nicht so schlecht.»
«Man kann so viel aufsaugen hier», sagt Manuel Naef. «Es gibt sehr unterschiedliche Positionen, aber ich finde auch die Gruppen mit Gleichgesinnten, die Vernetzung, extrem wichtig.» Ein Elfenbeinturm also? «Das klingt nach Theorie», entgegnet Lussi. «Hier geht es aber praktisch zu und her, man geht zusammen ein Handwerk an.» Der Begriff ‹Werkstatt› gefällt den beiden am besten: Ein Raum für das Ausprobieren verschiedener Genres, Stilmittel und Sichtweisen auf einen Text.
Beflügelnd
Die Treffen mit ihrer Mentorin, der Autorin Birgit Kempker, bestreiten sie zu dritt. Beide empfinden die enge Mentoratsbeziehung als beflügelnd. Nebst der Textarbeit motiviert sie zu Experimenten: Weil im Zentrum von Lussis Prosa-Text zwölf Mäuse stehen, hält sie sich auf Anraten der Mentorin selbst einige Nager. «Erst fand ich die Idee wahnsinnig, aber jetzt bin ich froh um die Realfolie», sagt sie. Naef war der Rahmen für seinen entstehenden Schelmenroman bereits vertraut: Ein Friedhofsgärtner ist die Hauptfigur – eine Berufsgruppe, die ihn schon als Steinbildhauer faszinierte. Wichtig ist ihm in seinem Text aber die Sprache: ausufernd, mit viel Sprachwitz.
Inzwischen brennt die Sonne auf den Balkon. Lussi muss weiter zum nächsten Kurs: Literaturkritik beim Philosophen Samuel Moser. Zeit für einen Ausblick. «Mit 18 hatte ich noch den unreflektierten Traum, Bestseller-Autorin zu werden», sagt Lussi lachend. «Heute möchte ich einfach weiterschreiben. Und hoffe, dass ich publizieren kann.» Auch Naef sieht sich hauptberuflich schreibend. Mit Nachdruck ergänzt er: «Aber Bestseller-Autor, das wäre meine Horrorvorstellung.»
Erfolgreiche Absolventen des Schweizerischen Literaturinstituts
Dorothee Elmiger: 2006–2009
«Das Studium hat vor allem mein Lesen von Texten und mein Nachdenken darüber geprägt. Es hat mich nicht unbedingt bestärkt, sondern immer wieder auch verunsichert: Ich glaube, das ist sehr wichtig.»
Arno Camenisch: 2007–2010
«Ich habe diese Zeit in erster Linie genutzt, um zu experimentieren und verschiedene Formen auszuprobieren. Das Studium hat mich in der Absicht bestärkt, konsequent meinen eigenen Weg zu gehen, hat sich also auch auf das Selbstvertrauen ausgewirkt.»
Michael Fehr: 2007–2010
«Das Literaturinstitut war der Initiationsort für mein Schreiben. Ich habe entdeckt, dass ich mit Sprache ganz anders umgehe – das hat anfangs zu gegenseitiger Verunsicherung geführt. Aber die Dozenten und Mentoren lassen sich auf Persönlichkeiten ein.»
Patric Marino: 2008–2011
«Der Austausch mit Kolleginnen und Autoren, die völlige Konzentration aufs Schreiben, die Arbeit an und mit Texten, auch der freie, kreative Geist, der in Biel wehte, haben mich geprägt, dadurch bin ich definitiv der Literatur verfallen.»
Matthias Nawrat: 2009–2012
«Ich schreibe seit der Zeit am Institut in mehrere Richtungen, probiere formal mehr aus, interessiere mich für randständigere Dinge und traue mich mehr, bin manchmal grössenwahnsinniger – in einem positiven Sinne.»
5 Fragen an Marie Caffari, Leiterin des Schweizerischen Literaturinstituts
«Es gibt grossartige Selfie-Literatur»
kulturtipp: Das Literaturinstitut wurde besonders zu Anfang mit Kritik eingedeckt, es war von «Instituts-Prosa» oder der «Mainstream-Schmiede» die Rede. Hat sich die Lage inzwischen beruhigt?
Marie Caffari: Man dachte, dass eine Schule einen Kanon bildet und darum alle gleich schreiben. Das hat sich nicht bestätigt – im Gegenteil, die Texte sind stilistisch sehr unterschiedlich. Am Institut gibt es auch seitens der Dozenten sehr unterschiedliche Stimmen und Haltungen zu literarischen Texten, die Studierenden sind mit diversen Ansichten konfrontiert. Wenn es bei ihnen Ähnlichkeiten unter den Texten gibt, hat das eher mit der Generation der 20- bis 30-Jährigen zu tun, die sich für bestimmte Themen interessiert.
Die sogenannte «Befindlichkeits-Literatur»?
Es gibt durchaus Autobiografisches. Ich sehe bei dieser Generation aber auch ein grosses Interesse für das, was da draussen ist, für das Beobachten, für andere Kulturen, für Beziehungen unter Menschen, die Zukunft der Welt. Gerade
in der Romandie gibt es ein grosses erfinderisches Vermögen, auch stilistisch. Dies wird in den Aufnahmedossiers immer wieder ersichtlich. Im Übrigen gibt es grossartige «Selfie-Literatur».
Wie wird der individuelle Stil der Studierenden gefördert?
Wir erwarten von ihnen, dass sie selber mit Themen und Textvorschlägen kommen – von Anfang an. Wir verschreiben in den Kursen und im Mentorat nichts, aber wir arbeiten mit den Studierenden an ihren Texten: Wir wollen den Boden nähren, an Texten, Figuren, Klängen arbeiten. Und wir fördern den Zugriff auf Stoffe, fragen: «Was willst du erzählen, und mit welchen literarischen Mitteln?».
Das runde Jubiläum steht im Herbst bevor. Welches Fazit ziehen Sie nach 10 Jahren?
Das Literaturinstitut hat sich bewährt, es gibt ein Bedürfnis nach so einer kleinen Institution in der Schweiz. Die Fülle und die Qualität der Texte, die daraus entstanden sind, sind sehr erfreulich. Ich freue mich immer wieder riesig über die grossen Entwicklungsschritte, die manche Studierende durchmachen, und wenn jemand seinen Raum im Literaturbetrieb gefunden hat. Wir sind nicht der Grund für die aussergewöhnlichen Texte von jungen Autoren, aber wir sind Teil dieser Dynamik. Die Praxis des Schreibens ist am Literaturinstitut eminent wichtig: Es braucht in der Schweiz einen Ort, wo sich Autoren auf das Schreiben und auf den Austausch über Literatur konzentrieren können. Nicht alle jungen Autoren benötigen das, aber viele.
Wo sehen Sie die zukünftigen Herausforderungen oder Verbesserungspotenzial?
Einerseits wollen wir den Studierenden eine Sicherheit in ihrer literarischen Arbeit geben. Andererseits wollen wir offen sein für das, was literarisch neu entsteht. Und wir wollen dem einen Raum im Studienprogramm geben, was sich erst in einigen Jahren etablieren wird. Dazu braucht es Antennen, eine Hellhörigkeit und Agilität, sich immer wieder auf Neues einzulassen. Wir wollen in diesem Spannungsfeld bleiben.
Fakten und Zahlen
Das Literaturinstitut in Biel wurde 2006 als Fachbereich der Hochschule der Künste Bern gegründet und bietet den Bachelor in Literarischem Schreiben an. Das dreijährige Studium beinhaltet die von einem Mentor begleitete Arbeit an individuellen Projekten, Schreibateliers, Kurse zu literaturwissenschaftlichen Textzugängen und zum Thema «Schreiben als Beruf» sowie transdisziplinäre Projekte. Seit Beginn haben knapp 100 Autoren das Studium abgeschlossen. Von rund 100 Bewerbungen pro Jahrgang werden jeweils 15 Jungtalente ausgesucht. Diese sind meist zwischen 19 und 30 Jahre alt. Auf Zweisprachigkeit wird Wert gelegt. Nach gezielter Werbung in der Romandie wurde das Ziel von rund einem Drittel französischsprachiger Studierenden erreicht. Der Abschluss in Biel ermöglicht ein fachverwandtes Masterstudium an einer Fachhochschule oder an der Universität Lausanne.
www.literaturinstitut.ch