Die Beziehung von Mensch und Natur ist in Zeiten von Pandemien, Hitzewellen und Überschwemmungen auch in der Literatur ein grosses Thema. Am Festival Buch Basel widmet die preisgekrönte Schriftstellerin und Buchgestalterin Judith Schalansky ihre Eröffnungsrede dem vielschichtigen Verhältnis von Literatur und Natur. Ein Thema, mit dem sie auch als Herausgeberin der Buchreihe «Naturkunden» vertraut ist. Die neuste Ausgabe in dieser Reihe befasst sich mit dem Faultier – einem Tier mit durchzogenem Leumund. Tobias Keiling und Heidi Liedke zeigen in ihrem wunderbar illustrierten Buch anhand des Faultiers, wie sich die Menschen immer auch selber meinen, wenn sie der Natur und den Tieren Eigenschaften zuschreiben. Keine Sprache, in der das Faultier keinen abwertenden Namen hat. Wegen 20 Stunden Schlaf pro Tag gilt es als schlechtes Vorbild. Komisch, dass niemand mit der Stopp-uhr neben dem schnarchenden Dackel oder der im Tiefschlaf schnurrenden Mieze steht. Kurz vor der Französischen Revolution jedenfalls notierte der Naturforscher Georges-Louis Leclerc de Buffon beim Anblick eines bei lebendigem Leibe sezierten Faultiers: «Das Tier ist nicht sofort an seinen Schmerzen verendet, vielmehr hat es weiter versucht, seine Beine zu bewegen, und sein Herz hat erst nach einer halben Stunde zu schlagen aufgehört.» Zu faul, um zu sterben, wenn es aufgeschlitzt wird – nein, wie stumpf! Kein Wort über die Stumpfheit derer, die mit ihren Messern über das Faultier herfallen.
Ailton Krenaks trauriges Amazonas-Lied
Der brasilianische Autor und Umweltaktivist Ailton Krenak kann über den rücksichtslosen Umgang mit der Natur ein trauriges Lied singen. Er gehört zum Volk der Krenak, das seit Jahrhunderten am Rio Doce im Amazonasgebiet lebt. Vor einigen Jahren überflutete ein Dammbruch im Bergwerk ihr Siedlungsgebiet mit Schwermetallen. «Watu, der Fluss, der unser Leben am Ufer des Rio Doce […] ermöglicht hat, ist auf einer Länge von 600 Kilometern […] verseucht», schreibt er im Buch «Ideen, um das Ende der Welt zu vertagen». Ungeschoren kommen nur die Bergbaufirmen davon, nicht die Indigenen. Diese stehen vor der Wahl, ihre Heimat zu verlassen oder mit der Verseuchung zu leben. Krenak entscheidet sich fürs Bleiben und verliert trotzdem nicht den Humor. So erzählt er in seinem Buch eine Sage seines Volkes, in der sich ein Gott als Ameisenbär verkleidet, um seine Schöpfung zu beobachten. Jäger fangen ihn ein – «natürlich, um ihn zu essen». Der Gott gibt sich einigen Kindern zu erkennen. Diese fragen, wie er seine Schöpfung finde. «Geht so», antwortet Gott.
Helen Macdonald lehrt das Staunen und die Neugier
Die britische Bestsellerautorin Helen Macdonald wiederum berichtet in ihrem Buch «Abendflüge» von menschgemachter Zerstörung und von der Resilienz der Natur. In ihren Essays nimmt die Wissenschaftshistorikerin, die als Falknerin selbst Greifvögel zähmt, ihre Leserinnen und Leser zur Vogelbeobachtung mit auf nächtliche Wolkenkratzer in New York. Anhand gespenstisch anmutender Vogelschwärme macht sie ihre Leser vertraut mit den Grundzügen der Aeroökologie. Roter Faden sind Macdonalds Neugier und ihr ansteckender Wissensdurst, die sie schon seit der Kindheit begleiten: «Als ich die Namen der Tiere und Pflanzen in Bestimmungsbüchern nachschlug, tat ich dies, weil ich sie genauso wissen wollte wie die Namen meiner Klassenkameraden.» Macdonald lehrt uns Staunen und Neugier – ein durch und durch literarisches Unterfangen: «Die Wissenschaft tut nichts anderes als das, was Literatur meiner Meinung nach öfter tun sollte: Sie zeigt uns, dass wir in einer exquisit vielschichtigen Welt leben, in der es nicht ausschliesslich um uns geht.»
Reimer/Staud berichten über die Welt in 29 Jahren
Die Wissenschaftsjournalisten Nick Reimer und Toralf Staud zeigen im Buch «Deutschland 2050», was passiert, wenn die Weltklimarats-Berichte weiter ignoriert werden. Sommer mit 35 Grad werden als normal gelten, und solche mit über 40 Grad werden alle paar Jahre vorkommen. Die beiden schreiben über eine ebenso gegenwärtige wie zukünftige Welt. Eine Welt, die im Heute beginnt. In der den Meeren «über die letzten 25 Jahre […] die Wärme von 3,6 Milliarden Hiroshima-Atombomben zugeführt wurde» – und in der gemeckert wird, wenn die Fischstäbchen im Supermarkt alle sind. Eine Welt, in der aufgetauter Permafrost zur Rückkehr längst besiegter Seuchen führt. Reimer und Staud betreiben keinen Alarmismus, sie verlegen ihre Prognosen vielmehr in eine Zeit, die hoffentlich weit genug voraus liegt, um die schlimmsten Auswirkungen unseres Tuns noch etwas zu mildern.
Eröffnungsrede BuchBasel
Judith Schalansky
Do, 4.11., 18.00 Festsaal Volkshaus Basel
Tobias Keiling & Heidi Liedke
Hg. Judith Schalansky
Faultiere – Ein Portrait
160 Seiten
(Matthes & Seitz 2021)
Zoom-Lesung
Ailton Krenak
So, 7.11., 14.00
www.buchbasel.ch
Buch
Ailton Krenak
Ideen, um das Ende der Welt zu vertagen
144 Seiten
(btb 2021)
Lesung
Helen Macdonald
Fr, 5.11., 15.30 Unionsaal Basel
Buch
Helen Macdonald
Abendflüge
352 Seiten
(Hanser 2021)
Buchverlosung
Lesung
Nick Reimer & Toralf Staud
Sa, 6.11., 17.00
Festsaal Basel
Nick Reimer & Toralf Staud
Deutschland 2050 – Wie der Klimawandel unser Leben verändern wird
384 Seiten
(Kiepenheuer & Witsch 2021)
Ein anregendes Programm
Das Festival Buch Basel sorgt einmal mehr für ein interessantes Programm rund ums Buch. Nach Judith Schalanskys Eröffnungsrede am Donnerstagabend werden während dreier Tage nationale und internationale Gäste ihre neusten Werke live vor Ort oder in digitalen Lesungen und Diskussionen vorstellen – von Philosophin Eva Illouz über Pulitzerpreisträger Richard Powers bis zu den Autorinnen Jenny Erpenbeck und Zeruya Shalev. Vor Ort sind auch die Nominierten des Schweizer Buchpreises: Martina Clavadetscher, Thomas Duarte, Michael Hugentobler und Veronika Sutter. Zur Preisverleihung am Sonntag wird Radio SRF zwei Live-Sondersendungen gestalten. (bc)
Buch Basel
Do, 4.11.–So, 7.11.
Programm: www.buchbasel.ch
Radio
Live-Sondersendungen zum Schweizer Buchpreis
So, 7.11., 12.00–12.30 Radio SRF 2 Kultur
So, 7.11., 14.00–14.30 Radio SRF 1