Literatur - Über die moderne Medienwelt
Die ehemalige Literaturkritikerin Annalena McAfee hat mit «Zeilenkrieg» ihren ersten Roman veröffentlicht. Es ist eine Abrechnung mit dem britischen Journalismus – und vor allem eine unterhaltende Lektüre.
Inhalt
Kulturtipp 23/2012
Rolf Hürzeler
Das ist ein kleiner Glücksmoment. Die Boulevardjournalistin Tamara Sim entdeckt in der Wohnung ihrer Interviewpartnerin einen Stapel privater Post. Ein beherzter Griff in einem unbeobachteten Moment und sie behändigt die Briefe, um an intime Informationen heranzukommen: «Tamara hatte nicht viele mitgenommen, sie wollte keinen Verdacht erregen», lautete das Kalkül. Allfällige Skrupel wegen des Diebstahls hatte die Jungjournalistin indes nicht. «Legitime Ta...
Das ist ein kleiner Glücksmoment. Die Boulevardjournalistin Tamara Sim entdeckt in der Wohnung ihrer Interviewpartnerin einen Stapel privater Post. Ein beherzter Griff in einem unbeobachteten Moment und sie behändigt die Briefe, um an intime Informationen heranzukommen: «Tamara hatte nicht viele mitgenommen, sie wollte keinen Verdacht erregen», lautete das Kalkül. Allfällige Skrupel wegen des Diebstahls hatte die Jungjournalistin indes nicht. «Legitime Taktik bei der Recherche einer Story», heisst das auf den Redaktionen der bunten, britischen Blätter wie «The Sun» oder den eingestellten «News of the World». So beschreibt die britische Autorin Annalena McAfee in ihrem ersten Roman «Zeilenkrieg» die Arbeitsmethoden der ehrgeizigen Reporterin Sim.
Die Boulevardgurgel Tamara Sim hat den Auftrag, ein Porträt über die betagte Journalistin Honor Tait zu schreiben. Diese Reporterin alter Schule hat mit Hitler Tee getrunken, Franco und Fidel Castro getroffen. Und sie war bei der Befreiung von Dachau dabei. Tait ist ein fiktiver Verschnitt renommierter Reporterinnen wie Martha Gellhorn und Oriana Fallaci. Allerdings ist die alte Tait vor Eitelkeit nicht gefeit. Sie suhlt sich in ihrer gloriosen Vergangenheit und leidet darunter, dass ihre Artikel keinen Zuspruch mehr finden.
Die ehrgeizige, aber heillos überforderte Tamara setzt nun alles daran, die alte «Schachtel» blosszustellen, um damit einen möglichst grossen Coup zu landen. Dazu bespitzelt Tamara die Doyenne. Sie schleicht sich sogar an einer Soirée ein, welche die Dame für ihre letzten Bewunderer gibt. Schliesslich ist die junge Tamara überzeugt, die Geschichte ihres Lebens gefunden zu haben: Sie unterstellt der Alten, an einem Kindsmissbrauch beteiligt gewesen zu sein. Der Leser ahnt zwar früh, dass Tamara einem Irrtum aufsitzt. Aber sie ignoriert ebenso wie ihre Vorgesetzten alle Fakten, die nicht ins Bild passen. Spätestens hier bekommt man den Eindruck, dass die britische und das schweizerische Medienwesen gar nicht so verschieden sind.
Witzige Satire
McAfee hat mit ihrem ersten Buch «Zeilenkrieg» eine witzige Satire über die moderne Medienwelt geschrieben. Die Autorin war früher Kunst- und Literaturkritikerin bei der «Financial Times» und beim «Guardian». Sie galt während Jahren als eine der wichtigen Journalistinnen in der britischen Medienszene in London. Nun ist sie Schriftstellerin und mit dem britischen Erfolgsautor Ian McEwan verheiratet.
Fünf Fragen an Annalena McAfee
Vom Traum, einen Roman zu schreiben
kulturtipp: Sie rechnen in Ihrem Roman «Zeilenkrieg» mit den britischen Medien ab.
Annalena McAfee: Ja, aber der Roman spielt in den späten 90ern, als das Internet erst gerade aufkam. Und viele unterschätzten es damals noch.
Brachte die Boulevardisierung der Medien Sie dazu, als Literaturkritikerin aufzuhören und Schriftstellerin zu werden?
Nein, fast jeder Journalist träumt davon, einmal einen Roman zu schreiben. Irgendwann kommt der Moment, da muss man es einfach tun.
Und dann geht es schief.
Ja, das kann passieren. Der verstorbene US-amerikanische Autor Charles Hitchens sagte einmal, jeder Journalist habe eine Romangeschichte im Kopf. Und genau dort sollte sie bleiben und ja nicht niedergeschrieben werden – den Lesern zuliebe.
Sie haben es trotzdem gewagt …
… ja, ich versuchte, die journalistische Arbeitsweise schriftstellerisch umzusetzen. Dazu gehört, überall und jederzeit schreiben zu können, selbst wenn ein Höllenlärm rundum herrscht. Allerdings litt ich darunter, keinen Redaktionsschluss einhalten zu müssen. Da fehlte mir der nötige Druck. Ich musste mich selbst überlisten.
Wie arbeiten Sie mit Ihrem Mann Ian McEwan zusammen?
Er gibt mir die Entwürfe seiner Bücher zum Lesen. Ich gehe sie sorgfältig durch. Ich glaube, ich kann die Bücher meines Mannes mit der nötigen Distanz lesen. Viel schwieriger ist es, einen eigenen Text zu beurteilen. Darum hilft er mir seinerseits auch.
[Buch]
Annalena McAfee
«Zeilenkrieg»
487 Seiten
(Diogenes 2012).
[/Buch]