kulturtipp: In den 60ern erlebte die Mundartliteratur mit Kurt Marti, Ernst Eggimann u.a. ihre Blütezeit. Seit den 2000er-Jahren erscheinen wieder vermehrt Mundarttexte in Buchform. Wie erklären Sie sich diesen Boom?
Markus Gasser: Seit den 60ern geht die Tendenz weg von Normen und Regeln, hin zu mehr Freiheit und Individualität – Mundart verkörpert beides. Sie ist ein Gegenmodell zur Globalisierung. Inzwischen haben sich Performance-Künste etabliert, welche Mundart benutzen: Vorreiterrollen hatten Rap-Künstler wie Black Tiger oder Big Zis in den 90ern und später das Spoken-Word-Kollektiv Bern ist überall. Spoken Word ist Literatur in Kurzform für die Bühne – das begünstigt Mundart als Sprache der Direktheit und Ausdruckskraft. Herausragende Werke wie «Der Goalie bin ig» von Pedro Lenz spielten sicher auch eine Rolle, dass immer mehr Schriftsteller sich in der Mundart versuchen.
Viele schreiben SMS oder Mails in Mundart. Mundart ist die «Sprache des Herzens», weil sie uns vertraut ist. Warum bedienen sich auch immer mehr Künstler der Mundart?
Die Rapper nennen es «realness» – Authentizität. Das trifft auch für Slammer und Spoken- Word-Künstler zu. Es geht nicht nur ums Herz, sondern um Nähe: Zum Ort, zum träfen Ausdruck etc.
In der Mundart gibt es ausser einigen Dialektwörterbüchern keine standardisierte Schriftsprache. Lässt Mundart den Schweizer Schriftstellern mehr Raum für Kreativität, etwa für eigene Wortschöpfungen?
Ja, Mundart schreiben ist ungeregelt, Fehler werden nicht gesellschaftlich sanktioniert wie beim Hochdeutschen. Dass sie nur schwach kodiert ist, mit Wörterbüchern und Grammatiken, ist ihre Stärke für den künstlerischen und alltäglichen Gebrauch. Die Dialektologin Helen Christen wurde einmal gefragt, ob man Mundart nicht zum Schulfach machen müsste. «Um Gottes Willen, nein! Das wäre ihr Tod!», sagte sie. Das würde Regulierung und Sanktionierung bedeuten – und das wäre uncool.
«Man stelle sich Zeitungen, Packungsbeilagen und Rezepte in Schweizerdeutsch vor. Das ist eine Science-Fiction-Fantasie, bei der man von kaltem Grausen erfasst wird», sagte der Germanist Peter von Matt in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger». Warum haftet der Mundart immer noch etwas Zweitklassiges an?
Das Zweitklassige rührt daher, dass Mundart zum Kleinräumigen gehört und nicht zum Globalen und Mondänen, zum Alltäglichen und nicht zum Erhabenen. Das ist nicht meine Meinung, ich interpretiere nur Peter von Matt! Ausserdem sind seine Beispiele pure Provokation. Er spricht ja von Sach- und Gebrauchstexten. Niemand will die auf Mundart haben. Die eignen sich gar nicht dafür, weil sie oft Fachwortschatz enthalten, für den es keine Mundartvarianten gibt. Und weil es verdichtete Texte sind, die möglichst viel Info auf wenig Raum transportieren müssen. Und beim Theater geht es wohl um hehre Kunst und klassisches Bildungsbürgertum, wenn Mundart keinen Raum finden darf. Denn an sich ist das Theater der Mundartort schlechthin, wo Mündlichkeit und direkte Rede das zentrale Ausdrucksmittel sind.
Was zeichnet Dialekttexte aus?
Man kann im Dialekt alles sagen und beschreiben, was man auch auf Hochdeutsch kann. Es stimmt nicht, dass Mundart fürs Herz, Hochdeutsch fürs Hirn ist, auch wenn viele Mundarttexte dieses Klischee bedienen. Die Dialekttexte sollen so tönen, wie man spricht oder sprechen könnte. Mündlichkeit ist einfacher, sprunghafter, geradliniger. Die Texte sind öfter in direkter Rede, in der Ich-Perspektive gehalten als im distanzierten Erzählen. Oft sind sie rhythmisiert und sprachlich stark charakteristisch. Sie enthalten oft Worte mit starkem Eigengeschmack, mit Stallgeruch. Sie sind nahe an Erlebniswelten. Für abstrakte Abhandlungen benutzen Autoren keine Mundart.
Dialekt zwingt zum langsamen Lesen. Entfaltet sich der Klang der Mundartliteratur nicht erst gesprochen auf der Bühne?
Die Bühne ist der Ort für Mündlichkeit, das stimmt. Aber was spricht dagegen, langsam zu lesen? Gebundene Sprache wie in Gedichten zwingt dem Leser auch sein Tempo auf. Dafür erhält man andere Qualitäten. Zum Beispiel den Genuss des treffenden Worts. Im Übrigen wird man mit ein wenig Übung rasch schneller mit Mundart lesen.Interview:
Mundartkunst an zwei Festivals
Das Mundartfestival in Arosa präsentiert als Stargast die Bernerin Steff la Cheffe. Mit ihrem neuen Album «Härz Schritt Macherin» bietet sie Mundart-Rap vom Feinsten. Auf dem Programm stehen auch Spoken Word mit Andrea Zogg & Nyna Dubois, die Liedermacher Schönholzer & Rüdisüli oder die «Morgegschichte» mit Walter Däpp u.a.
Das Festival Woerdz in Luzern bringt die Akteure der Spoken-Word-Szene zusammen – zu Gast sind hochkarätige Künstler wie der US-Poet Saul Williams, der einmal solo und einmal mit dem David Murray Quartet zu hören ist. Aus der Schweiz sind Hazel Brugger, Isa Wiss, Martina Clavadetscher u.a. zu Gast.
Auch die Mundartkunst ist mit zahlreichen Veranstaltungen vertreten, etwa mit Pedro Lenz oder Matto Kämpf & Sandra Künzi.
Mundartfestival Arosa
Do, 4.10.–So, 7.10., Chur, Langwies, Arosa GR
www.mundartfestival.ch
Woerdz Luzern
Mi, 17.10.–So, 21.10., Luzern
www.woerdz.ch
Radio
Live-«Schnabelweid» vom Mundartfestival Arosa
Do, 4.10., 21.00 aus dem Hotel Chur in Chur
Mit Musiker Mario Pacchioli, Autorin Silvia Tschui u.v.a.
Radio SRF 1
«Schnabelweid»: «Best of Arosa»
Do, 11.10., 21.00 Radio SRF 1
«Kontext»: «Wir und die Schwaben»
Talkrunde aus Arosa mit Kabarettist Thomas C. Breuer, Linguistin Sieglinde Geisel, Fussballweltmeister Guido Buchwald und Sprachexperte Markus Gasser
Fr, 12.10., 09.00 & 18.00
Radio SRF 2 Kultur
Mundarttag
Do, 18.10., 06.00–24.00
Radio SRF 1
Themen: Die schönsten Mundart-Wörter, Mundart-Sprachkurs, die Zukunft der Mundart etc.
Live-«Schnabelweid» vom Woerdz Luzern
Do, 18.10., 21.00 Radio SRF 1
Live-«Kontext»: «Sprache der Zukunft – Zukunft der Sprache»
Talkrunde am Festival Woerdz mit dem Autor Gion Mathias Cavelty, der Zeichnerin Lika Nüssli u.v.a.
Fr, 19.10., 09.00 & 18.00
Radio SRF 2 Kultur
NEUES AUS DER MUNDARTLITERATUR
Dominic Oppliger acht schtumpfo züri empfernt
Novelle, 150 Seiten (Der gesunde Menschenversand 2018)
Der Zürcher Dominic Oppliger (*1983) verfährt in seinem Erstling eigenwillig mit der Sprache: radikale Kleinschreibung, phonetisches Schriftbild, Verzicht auf Satzzeichen, Prosa, die er in Verse und Strophen gliedert. Vor allem zieht er einzelne Wörter zu einem einzigen zusammen. Man muss bei der Lektüre genau hinsehen, um bestimmte Wörter zu entziffern: «zudetaxi umpüss» (zu den Taxis und Bussen), «enalpekanti schtimm» (eine altbekannte Stimme), «xeepmer» (sieht man), «käsekunde» (keine Sekunde).
Was im Schriftbild so fremd erscheint, ist genauer betrachtet das eigentlich Vertraute: So sprechen wir. Am besten liest man laut und folgt so den Episoden über Alltagsereignisse und Beziehungsgeschichten eines jungen Protagonisten.
Über Ovid aus der Antike meint der Erzähler einmal, was auch für dieses Buch gilt: «aber wämmers mal entzifferet hätt/dänn sinzebe schono gueti gschichte». Dominic Oppliger gelingt ein Glanzstück moderner Mundartliteratur.
Ernst Burren
I däm Auter no nes Gschleipf
Mundartgeschichten, 128 Seiten (Cosmos Verlag 2018)
Ernst Burren (*1944) gilt als Doyen der Mundartliteratur im Solothurner Dialekt. Seit 1970 verwandelt er Alltags- in Literatursprache. Er erzählt kleine melancholische Stücke vom falschen Leben. Das neue Buch versammelt Geschichten von älteren Menschen mit ihren Träumen und Sehnsüchten. (hau)
Pedro Lenz
Der Liebgott isch ke Gränzwächter
44 Mundartkolumnen, 96 Seiten (Cosmos Verlag 2018)
Er ist der erfolgreichste unter den neuen Mundartautoren. Pedro Lenz hat mit dem Roman «Der Goalie bin ig» einen modernen Klassiker geschrieben. Lenz beobachtet träf und formuliert pointiert-witzig. Wie im neuen Buch, eine Sammlung seiner Kolumnen aus der «Schweizer Illustrierten».
Stef Stauffer
Hingerhang
Roman, 150 Seiten (Zytglogge 2018)
Die gebürtige Bernerin Stef Stauffer (*1967) hat mehrere Romane veröffentlicht. Der neue ist ihr erster in Mundart (Buchvernissage: Seite 29). Die junge Protagonistin in diesem Buch übers Heranwachsen nutzt den Dialekt für einen regelrechten Redeschwall, in dem sie analysiert und kommentiert, was um sie herum passiert.