Die Live-Kultur steht still – zurzeit bleibt nur noch die Kultur zu Hause. Ein trefflicher Trost sind Bücher: Was gibt es Schöneres, als einzutauchen in andere Lebens- und Denkwelten? Diese Möglichkeit haben im vergangenen Jahr zahlreiche Bücherwürmer genutzt, wie die neusten Zahlen des Schweizer Buchhändler- und Verleger-Verbands (SBVV) zeigen. «Obwohl die Buchhandlungen während des Lockdowns geschlossen waren, blieb der Umsatz im Vergleich zum Vorjahr unverändert», freut sich SBVV-Geschäftsleiterin Tanja Messerli. Während der Umsatz der Reiseliteratur um 32,5 Prozent eingebrochen ist, konnten alle anderen Bereiche zulegen: die Ratgeberliteratur gar um 19,5 Prozent, Bücher zu Geisteswissenschaften, Kunst und Musik um 8,7 Prozent, Kinder- und Jugendliteratur um 5,7 Prozent und die Belletristik um 4,5 Prozent.
«Viele Buchhandlungen konnten die Schliessungen mit dem Online-Verkauf kompensieren», sagt Messerli. Die Buchhandlungen haben zudem davon profitiert, dass der Online-Riese Amazon während des Lockdowns im Frühling keine Bücher mehr lieferte. Ein weiterer Glücksfall: 2020 sei ein Jahr mit überdurchschnittlichen Topsellern im Programm gewesen. Als Beispiel nennt Messerli die neue Obama-Biografie oder das Kochbuch «Tanja vegetarisch», die perfekt zum Zeitgeist gepasst haben und tausendfach über den Ladentisch gingen.
In die Zukunft blickt Tanja Messerli trotz der aktuellen Lage mit Optimismus. «Im letzten Jahr hat sich gezeigt, wie sehr die Buchhandlung als Begegnungsort geschätzt wird und dass das Buch durchaus konkurrenzfähig ist mit anderen Medien wie Streaming.» Ihr Ziel: sich noch mehr Gehör verschaffen in der Politik oder bei SRF, das Literatursendungen wie «52 beste Bücher» gestrichen hat. Denn sie ist überzeugt: «Die Buchhandlung ist systemrelevant.» Diese Haltung ist in der Politik noch nicht angekommen. Inzwischen sind die Buchläden wieder geschlossen, nehmen aber Bestellungen online oder telefonisch entgegen. Für die Kulturmenschen im Lockdown ist der Büchernachschub jedenfalls garantiert – die aktuelle Saison verspricht zahlreiche spannende Neuerscheinungen.
Buchtipp: Eine irrwitzige Reise nach Kiew
Vom 34-jährigen Autor und Journalisten Dmitrij Kapitelman lässt man sich gerne mitnehmen auf eine Reise zu seinen ukrainischen Wurzeln: In seinem neuen, autobiografischen Buch «Eine Formalie in Kiew» erzählt er, wie er als Achtjähriger mit seiner Familie als so genannter «Kontingentflüchtling» aus der Ukraine nach Deutschland gekommen ist. Nach 25 Jahren will er nun den deutschen Pass beantragen – und so beginnt eine Odyssee durch die Einwanderer-Bürokratie in Deutschland und die korrupten Ämter in der Ukraine. Denn in Kiew soll er laut Frau Kunze von der Ausländerbehörde eine erneuerte Geburtsurkunde und eine Apostille besorgen: «Doas ist die behördliche Beschdädigung einör behördlichen Beschdädigung von dar nächsthöheren’n Behörde», erklärt sie im schönsten Sächsisch. Und so muss sich der Ich-Erzähler bald der Frage stellen: «Wie ist man in Kiew korrekt korrupt?»
Zuerst macht Kapitelman sich eher widerwillig auf die Reise, zumal ihn nicht mehr viel mit seiner alten Heimat verbindet. Doch kaum ist er gelandet, holen ihn die Erinnerungen an seine Kindheit Ende der 80er ein: eine Zeit, als sein heute lethargischer Vater Leonid noch putzmunter «die Welt auf Schleichwegen eroberte» und seine Mutter Vera, die sich heute nur um ihre 13 sibirischen Waldkatzen sorgt, noch ein Herz für die Familie zeigte. Und so wird die Reise in die Vergangenheit unverhofft zu einer Annäherung an die alte Heimat und schliesslich auch an seine Eltern, die einst hoffnungsvoll nach Deutschland gekommen und gescheitert sind.
Herzerwärmend, mit umwerfender Komik und sprachlicher Eloquenz erzählt Kapitelman vom Migrantenleben zwischen zwei Kulturen – und von einer Familie, die daran fast zerbrochen ist. Der wieder aufkommende Faschismus in Deutschland ist genauso Thema wie die korrupten Zustände in postsowjetischen Ländern wie der Ukraine, wo ein «Komiker-Präsident» für die Wende sorgen soll. Dennoch ist Dmitrij Kapitelman ein leichtfüssiger Roman gelungen, an dessen Ende die Frage steht: «Nichts ist so gleichgültig wie Nationalitäten. Wollen wir wirklich an etwas so Gleichgültigem zu Grunde gehen, liebe Landsleute?»
Buch
Dmitrij Kapitelman
Eine Formalie in Kiew
176 Seiten (Hanser Berlin 2021)
Erscheint am Mo, 25.1.
Welches Buch empfehlen Sie gegen den «Januar-Koller»?
Laura de Weck Autorin, Regisseurin
«Gern empfehle ich ‹Der Held› des Schweizer Autors Karl Rühmann, der in Jugoslawien aufgewachsen ist. Der Briefroman erzählt von zwei im Bürgerkrieg verfeindeten Offizieren, die sich in Friedenszeiten anfreunden und einander Briefe schreiben. Doch auch in den Briefen wird weiter Krieg geführt, diesmal nicht mit Waffen, sondern mit Worten: Annäherung, Versöhnung, Angriff, Taktik, Rache. Hochspannend, sehr berührend und nominiert für den letztjährigen Schweizer Buchpreis.»
Karl Rühmann
Der Held
264 Seiten
(rüffer & rub 2020)
Franz Hohler Schriftsteller
«Paul Maar, der liebenswürdige Erfinder der ‹Sams›-Geschichten, hat statt einer Autobiografie einen Roman über seine Kindheit geschrieben. Wir begleiten ein Kind in einer Welt, die vom Krieg und vom Nachkrieg bestimmt ist, wir möchten es an die Hand nehmen und werden von ihm an die Hand genommen, es zeigt uns Schicksal als etwas, in dem man sich zurechtfinden kann. Ermutigend, gerade heute.»
Paul Maar
Wie alles kam
304 Seiten
(S. Fischer Verlag 2020)
Patti Basler Kabarettistin
«Die Schwimmerin taucht ab und nimmt uns mit, schwimmt von Ufer zu Ufer durch die Gräben der westdeutschen Nachkriegszeit: Stadt und Land, Katholizismus und Protestantismus, Krieg und Wirtschaftswunder. Nicht zuletzt durchschwimmt sie die Gräben zwischen den Geschlechtern, wo Chancen und Risiken ungleich verteilt sind. Sie gewährt aus einer ungewohnten Perspektive Einblick in ein Stück Sozialgeschichte. Hervorragend recherchiert und so atemraubend und mitreissend erzählt wie ein Kopfsprung in ein unbekanntes Gewässer.»
Gina Mayer
Die Schwimmerin
352 Seiten
(Harper Collins 2020)
Nicola Steiner «Literaturclub»-Moderatorin
«Eine alte Witwe findet auf ihrem Spaziergang im Wald einen Zettel mit der Mitteilung: ‹Ihr Name war Magda. Niemand wird je erfahren, wer sie getötet hat. Hier ist ihre Leiche.› Die Leiche jedoch ist nicht da, und die Witwe beginnt, sich mit Magda und ihrer möglichen Geschichte zu befassen. ‹Der Tod in ihren Händen› von Ottessa Moshfegh, die schon länger als angehende Star-Autorin der USA gehandelt wird, ist ein zutiefst abgründiger Roman, spannend wie ein Krimi und zugleich ein Buch übers Geschichten-Erzählen und über Einsamkeit.»
Ottessa Moshfegh
Der Tod in ihren Händen
256 Seiten
(Hanser 2021)
Erscheint am Mo, 25.1.
Romantipp: Der Affe im Menschen
Die diffizile Beziehung zwischen Mensch und Natur ist das Spezialgebiet des kalifornischen Kultautors T.C. Boyle. Im neuen Roman «Sprich mit mir» steht ein Schimpanse im Mittelpunkt: Sam wächst bei Wissenschaftern auf, die ihm die Gebärdensprache beibringen. So kann er sich in rudimentärer Sprache mit seinen Mitbewohnern unterhalten – und fühlt sich ganz als Mensch. Eine besonders enge Beziehung hat der Schimpanse zur Assistentin Aimee, die für das von Professor Schemerhorn initiierte Projekt arbeitet. Doch als Zweifel an der Studie aufkommen, wird Sam an eine andere Universität verfrachtet, wo er sein Dasein als Versuchstier fristen soll. Für Schimpansen, deren Erbgut zu 98 Prozent dem des Menschen entspricht, eine besondere Grausamkeit. Aimee setzt alles daran, ihren Freund zu befreien …
Studien von Verhaltensforschern, die einer Schimpansin mittels Gebärdensprache «sprechen» beibrachten, hat es in den 60ern tatsächlich gegeben. T.C. Boyle stellt in seinem packenden Roman aber auch weiterführende Fragen: Kann ein Tier Reue oder Mitgefühl empfinden, kann es lügen? Kann es tatsächlich mit Menschen kommunizieren? Aimee jedenfalls ist überzeugt von Sams Fähigkeiten: «Er ist eine Person. (…) Er kann sprechen, er kann denken, er liebt uns.»
Boyle ist ein Meister seines Fachs, seine Bücher will man bis zum spektakulären Ende nicht weglegen. Der neue Roman packt auch durch die spezielle Perspektive: In eingeschobenen Kapiteln erzählt Boyle aus der Sicht des Schimpansen. Und über allem steht die Frage im Raum: Wie viel Mensch steckt im Affen – und wie viel Affe im Menschen?
Buch
T.C. Boyle
Sprich mit mir
352 Seiten
(Hanser 2021)
Erscheint am Mo, 25.1.
Krimitipp: Mit dem Rabbi auf Mördersuche
Die Krimis von Alfred Bodenheimer sorgen stets für gute Unterhaltung und Tiefgang: Auch im sechsten Roman, «Der böse Trieb», wartet der Basler Professor für jüdische Literatur und Religiongsgeschichte mit seiner bewährten Mischung auf – Krimispannung, ein vertiefter Einblick in die jüdisch-orthodoxe Alltagskultur und Religion sowie die privaten Verwicklungen des chaotisch veranlagten Rabbi Klein. Wie immer gerät der in Zürich praktizierende Rabbi eher ungewollt in die Aufklärung eines Mordfalls: Der Zahnarzt Viktor Ehrenreich, mit dem er jeweils kurz vor Neujahr ein «Sichat Nefesch», ein Seelengespräch, führte, wird erschossen aufgefunden. Klar, dass der selbsternannte Detektiv das Ermitteln nicht lassen kann und die Spuren bis in den Kongo verfolgt. Auch wenn er eigentlich mit eigenen Problemen beschäftigt ist. Denn Klein droht die Kündigung seiner Stelle – und dabei wollte er bloss bei einem Lieferproblem im Vorfeld des Laubhüttenfests vermitteln. Und seine Frau Rivka wäscht ihm gehörig den Kopf, weil er die Familie vernachlässige. Wie sich der sympathische Rabbiner aus dem Schlamassel zieht und wie er den Kampf gegen den titelgebenden «bösen Trieb» aufnimmt, erzählt Bodenheimer im neuen Roman. Einmal mehr gute Krimikost mit philosophischem Einschlag.
Buch
Alfred Bodenheimer
Der böse Trieb
256 Seiten
(Kampa 2021)
Erscheint am Do, 28.1.
Welches Buch empfehlen Sie gegen den «Januar-Koller»?
Barbara Bleisch Philosophin, und «Sternstunde»-Moderatorin
«Der sprachgewaltige Roman ‹Das blinde Licht› von Benjamin Labatut erzählt vom schmalen Grat zwischen Genie und Wahnsinn. Er berichtet von Menschen, welche die Wissenschaft beherrschten und damit beinahe die ganze Welt. Und von solchen, die kraft ihres Denkens alles Dagewesene sprengten und in ihrer ausufernden Schaffenskraft persönlich implodierten. Das Buch eröffnet einem manches Kapitel der Weltgeschichte neu. Grosses Kino zwischen zwei Buchdeckeln, wunderbar zu lesen an tristen Tagen, an denen die eigene Inspiration sich verkrochen hat.»
Benjamin Labatut
Das blinde Licht
187 Seiten
(Suhrkamp 2020)
Moritz Leuenberger Alt-Bundesrat, Moderator
«Ein 15-Jähriger erlebt die Enttäuschung seiner ersten Liebe. Gleichzeitig verliert er seinen besten Freund, der schwer erkrankt. Und seine Eltern trennen sich. Ein Leben, so wehmütig wie das Januarloch. Doch so, wie Motte seine Gefühle schildert, wirkt alles so skurril und komisch, dass die Schmerzen vergessen gehen. Dank seinem trockenen Humor können wir einen vergnügten, heiteren Blick zurück auf eine Jugend damals in den 70ern werfen. Eine fröhliche, zuweilen übermütige Geschichte von Wehmut, Zuversicht und Hoffnung.»
Matthias Brandt
Blackbird
288 Seiten
(Kiepenheuer & Witsch 2019)
Simone Lappert Schriftstellerin
«Gegen jegliche Art von Januar-Koller empfehle ich die enorm lehrreichen und witzigen Comics von Liv Strömquist, allen voran ‹Der Ursprung der Welt›. Hier wird aufgeräumt mit den Irrtümern über die Vulva und abgerechnet mit den Männern, die sie verbreitet haben, etwa John Harvey Kellogg, der Erfinder der Cornflakes, der ‹die Applikation von reiner Karbolsäure auf die Klitoris› vorschlug – ‹als hervorragendes Mittel gegen abnorme Wallungen›. Wer Liv Strömquist einmal gelesen hat, wird alles von ihr lesen wollen!»
Liv Strömquist
Der Ursprung der Welt
140 Seiten
(avant 2017)
Thomas Meyer Schriftsteller
«Gern empfehle ich ‹Ich habe den Todesengel überlebt – ein Mengele-Opfer erzählt›. Dieses Buch ist der erschütternde Bericht eines Mädchens, das mit seiner Zwillingsschwester den grausigen Experimenten von Josef Mengele unterzogen wird – und diese überlebt. Wer das liest, weiss, wie gut es uns geht. Trotz Corona.»
Eva Mozes Kor, Lisa Rojany Buccieri
Ich habe den Todesengel
überlebt, 222 S.
(cbj 2012)