Wie soll man als Kulturförderer entstehende Literatur unterstützen, wenn man weder Werkbeiträge ausrichtet noch Literaturpreise verleiht? Vor dieser Frage stand Migros Kulturprozent 2015. Die Lösung des Problems führte zur Literaturplattform Double. «Double ist für uns ein zeitgemässer Weg, die literarische Produktion zu unterstützen», sagt die Initiantin Yeboaa Ofosu, Projektleiterin Literatur beim Migros-Genossenschafts-Bund.
Illustre Liste früherer Mentoren
Je ein aufstrebender Autor und sein Mentor widmen sich ein Jahr lang einem entstehenden Text. Die Liste der aktuellen und früheren Mentorinnen und Mentoren ist illuster: Lukas Bärfuss, Ruth Schweikert, Nora Gomringer oder Michael Fehr sind nur ein paar wenige Beispiele.
Warum aber überhaupt Double-Mentor werden? «Im Studium habe ich mutige, erfahrene Mentoren getroffen», antwortet der Berner Poet Michael Fehr, der zurzeit mit Autorin Daniela Bär im Double arbeitet. «Heute ist es mir wichtig, etwas zurückzugeben. Ich sehe mich als Supporter oder Coach, der unter anderem helfen kann, Geschriebenes zu dekonstruieren und neu zusammenzusetzen.» Er begleitet Bär auf ihrem Weg zum Text und misst sie an den Zielen, die sie sich selbst steckt.
Ein weiteres, momentan noch laufendes Double ist jenes von Mentorin Romana Ganzoni und Mentoree Flurina Badel. «Aber was heisst hier schon Mentorin und Mentoree!», erwidert Ganzoni. «Das tönt ja wie Schülerin und Lehrerin! Dabei geht es doch vielmehr um einen Austausch auf Augenhöhe.» Das Duo Ganzoni–Badel ist übrigens das erste auf Rätoromanisch. Flurina Badel schätzt diesen Austausch sehr, gebe es doch für Mentorate in Vallader ansonsten «kaum professionelle Möglichkeiten, abgesehen von Freundschaftsdiensten».
Im Double mit Ganzoni hat sie die Möglichkeit, an Vallader-Texten zu arbeiten, «ohne dass die deutsche Übersetzung schon mitgedacht wird». Und wie wirkt sich das Double auf Badels konkrete literarische Praxis aus? «Romana mahnt mich, durchzuschreiben, und obwohl ich manchmal alles verwerfe, ist es ein gutes Gefühl, ein nächstes Treffen mit ihr abgemacht zu haben.»
Die Arbeitsgemeinschaft beruht auf Gegenseitigkeit
Zwischen den beiden entwickelte sich eine auf Gegenseitigkeit beruhende Arbeitsgemeinschaft, die sich auch nach den Treffen fortsetzte: «Künstlerische Arbeit hält sich ja nicht an Bürozeiten, und so telefonieren oder mailen wir auch mal, wenn es offene Fragen gibt», erläutert Romana Ganzoni. «Und ja, auch Flurina gibt mir Tipps zu meiner Arbeit oder inspiriert mich.» Sie hätte sich, so ihr Fazit, eine solche Art des Austauschs gewünscht, als sie am Anfang ihres Schreibens stand. Und auch Flurina Badel schwärmt: «Es ist ein Riesengeschenk, dass ich mich kurz vor meiner ersten Buchveröffentlichung mit einer erfahrenen Autorin austauschen kann.»
2019/2020 kommt es zu einer weiteren linguistischen Premiere. Die kroatische Schriftstellerin Dragica Rajčić bietet ein Double in «Lyrik, Prosa und Theatertext in fremdsprachigem Deutsch» an. Also ein literarisches Mentoring für Leute, deren Muttersprache eine andere als Deutsch ist, gewissermassen in der fünften Landessprache: «Die Dichtung von Autoren nicht-deutscher Muttersprache steht am Rand», sagt sie. Diesbezüglich sei die hiesige Literatur nicht so weit wie in den USA.
Eine Plattform für Einwanderer-Literatur
So schreibt Rajčić auf Anfrage: «Vor fünf Jahren hat der ‹New Yorker› eine Liste mit den besten jungen Autoren erstellt – 50 Prozent von ihnen waren aus anderen Ländern eingewandert.»
Dragica Rajčić sieht ihr Mentorat als Chance für «ein Gespräch über die besonderen Umstände, in welchen solche Literatur entsteht». Ausserdem könne durch ihr Double an der Wahrnehmung von Texten aus «fremdsprachigem Deutsch» gearbeitet werden. Denn obwohl es in der Schweiz mit Melinda Nadj Abonji, Francesco Micieli, Ilma Rakusa oder Dana Grigorcea und vielen anderen eine ganze Reihe von Autorinnen gibt, die in einer anderen als ihrer Muttersprache schreiben, gäbe es keine Preise oder Forschung, bei der «die fünfte Schweiz» im Zentrum steht. Dies im Gegensatz zu Österreich und Deutschland, wo nicht-muttersprachiger Literatur eine grössere Bedeutung zukomme.
Rajčić sieht ihr Mentorat auch als Beitrag zu einer anderen Wahrnehmung: «Immerhin leben und arbeiten 1,5 Millionen Einwanderer in der Schweiz und haben Erlebnisse, welche es Wert sind, erzählt zu werden.» Es ist zu hoffen, dass dieses Double dazu beiträgt, dass sich Literatur aus fremdsprachigem Deutsch in der Wahrnehmung bald ganz selbstverständlich zur Literatur in den vier Landessprachen, zu Dialektliteratur, Slam Poetry und Spoken Word gesellt.
Mentoren mit Spezialgebieten
Migros Kulturprozent führt jährlich sieben Doubles zusammen, denen zehn entlöhnte Arbeitstreffen ermöglicht werden. Bis auf Journalismus und akademisches Schreiben steht das Double allen Literaturgenres offen. In der Ausgestaltung haben die Beteiligten grosse Freiheit. So ist es möglich, anstatt zehn Einzeltreffen eine längere Retraite zu machen.
In diesem Fall vermittelt Migros Kulturprozent einen Rückzugsort.
Bis Mo, 30.9., können sich Interessierte fürs Double 2019/2020 bewerben. Nebst Dragica Rajcˇ ic´ bieten Dorothee Elmiger, Quentin Mouron, Marina Skalova, Bettina Vital sowie Elisabeth Wandeler-Deck Doubles an. Alle Informationen zur Anmel-dung und zu den Spezialge-bieten der jeweiligen Mento-rinnen und Mentoren finden sich unter www.double-literaturplattform.ch – genauso wie alle früheren Doubles und die entstandenen Texte.
Bücher, die bisher aus dem Double-Projekt entstanden sind
Regula Portillo
Schwirrflug
248 Seiten
(edition bücherlese 2017)
Arja Lobsiger
Jonas bleibt
128 Seiten
(orte Verlag 2017)
Michael Hugentobler
Louis oder der Ritt
auf der Schildkröte
192 Seiten
(dtv 2018)
Bernadette Fülscher
Stille Blicke. Reisegedicht
143 Seiten
(Éditions Parallèles 2018)