Die drei Niederlagen des Denkers
Ich habe kürzlich im Bahnhofbuffet einen Denker gesehen. Er trug einen Kopf – und er trug ihn wirklich und hatte ihn nicht nur –, der überall ein wenig aus der Form ging, vor allem quoll die Stirn weit aus seinem Schädel. Sie gab ihm das Aussehen eines Denkers, aber keineswegs das eines brillanten Begreifers; dazu schien sein Hirn zu gross, und ein Denkvorgang, der bei andern in kleinen Windungen erstaun-lich schnell vor sich geht, brauchte bei ihm doch offensichtlich einige Zeit, um die weitausladenden Kurven hinter sich zu bringen. Er war ein älterer Bahnarbeiter, es war zwischen sieben und acht Uhr – Feierabend.
Er trank sein Bier.
Ihm gegenüber ein junger Mann, fünfundzwanzig, clever, von seiner Intelligenz überzeugt. Kaugummi kauend, Taucheruhr, offensichtlich seit wenigen Minuten der zufällige Tischnachbar des Denkers.
Kunstschlosser sei er, sagte der jüngere, wohl die Frage des älteren beantwortend, die ich noch nicht gehört hatte; und der ältere musterte ihn und legte sich dabei seine Gedanken zurecht, setzte seinen Kopf in Bewegung, diesen Denkapparat, der fast so stark vergrössert war, dass der Denkvorgang, hätte man hindurchsehen können, sichtbar geworden wäre.
Ich erwartete denn auch, dass nun sehr langsam und stotternd vielleicht die Antwort käme; doch sie hatte bei dem umständlichen Vorgang eine endgültige Form gefunden:
«Kunst ist sehr schwer!»
Das war nun dem jüngeren offensichtlich zu dumm, er grinste, spielte einige Posen durch und entschied sich für ein Schulterzucken.
Inzwischen hatte der Denker seinen nächsten Satz beisammen, genutet, geleimt und verschraubt:
«Kunst ist eigentlich so schwer, dass man sie heute überhaupt nicht mehr lernen kann.»
«Ich habe es gelernt», sagte der jüngere, «also kann man’s noch lernen», und er fügte dem Satz – wie auch allen andern – ein «Oder» bei.
Und der Denker nahm das «Oder» ernst, überlegte und sagte dann nicht, dass er es nicht so, sondern anders gemeint habe, sondern er sagte:
«Das stimmt!»
Immerhin, seine Niederlage schien ihm doch nicht ganz richtig, und er versank wieder in Gedanken, aber seine Rehabilitierung gelang ihm nicht.
Und nun zog er eine Zehnernote umständlich aus dem Portemonnaie, das er umständlich aus seiner Gesässtasche gezogen hatte. «Weisst du», fragte er den Kunstschlosser, «weshalb Gottfried Keller ein so trauriges Gesicht macht?»
Schulterzucken.
«Weil er nicht mehr im ‹Löwen› in Glattfelden ist.»
Dann ein Strahlen des Denkers und mehrmals der Satz: «Gib zu, dass du es nicht gewusst hast!»
Der Einwand des andern war berechtigt, er sagte: «Du hast so gefragt, dass ich es nicht wissen konnte, auch wenn ich es gewusst hätte, denn der Keller kann ja auch wegen anderem traurig sein.»
Lange Pause. Dann sagte der Denker: «Das stimmt!»
Und etwas traurig über seine Niederlage fügte er hinzu: «Aber vor zwanzig Jahren habe ich drei Wochen in Glattfelden gearbeitet, und da hing im ‹Löwen› ein Bild von Keller an der Wand.»
Etwas später sagte dann der Denker in irgendeinem Zusammenhang: «Wie man liegt, so bettet man sich.»
«Du meinst», sagte der andere, «wie man sich bettet, so liegt man.»
«Ja», sagte der Denker, «das meine ich, aber ich kann es auch so sagen, wie ich es gesagt habe.»
«Nein, so ist es falsch, weil zuerst das Betten kommt und dann das Liegen.»
Nun schloss der Denker die Augen, sagte lange, lange nichts, formte mit den Lippen den Satz mehrmals, einmal so und einmal umgekehrt, begleitete sein Denken mit einem leisen Brummen und sagte endlich:
«Das stimmt – man kann den Satz nicht drehen.»
Der Kunstschlosser bezahlte, faltete die Noten des Herausgeldes längs, schob sie in die Tasche und ging lächelnd.
Wie er an meinem Tisch vorbeikam, blinzelte er mir zu und machte eine abschätzige Bewegung mit dem Kopf in Richtung des Denkers; er musste bemerkt haben, dass ich Zeuge seines Sieges war.
Und wirklich, daran gab es nichts zu ändern, der Denker war dreimal unterlegen – dies sei zu des Denkers Ehre gesagt.
Abgedruckt in: Zürcher Woche / Sonntagsjournal vom 30./31. August 1969.
© Suhrkamp Verlag Berlin 2020
Peter Bichsel
Fabulierer, Grübler, Schweiger: All das ist Peter Bichsel, der 1935 in Luzern geboren wurde und seit Jahrzehnten in Bellach bei Solothurn lebt. Als Schriftsteller wollte er sich nie bezeichnen, und dennoch wurde er mit seinem Erzählband «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen» 1964 schlagartig berühmt. Seither kennt man ihn als fantasievollen Erzähler, politischen Denker und pointierten Kolumnisten. Am 24. März wird das Urgestein der Schweizer Literaturszene 85 Jahre alt. (bc)
Selbstporträt
Liebe Buchhändler,
ich soll mich Ihnen vorstellen, und ich weiss, dass Sie mehr erwarten als: Ich heisse Peter Bichsel, bin am 24. März 1935 geboren, bin verheiratet, habe zwei Kinder, bin Lehrer in Zuchwil bei Solothurn in der Schweiz und schreibe.
Wollen Sie wirklich von mir selbst die Wahrheit hören?
Etwa so: Ich war in meiner Jugend ungemein stark, einer der besten Leichtathleten, ein überaus talentierter Linksaussen, der schmutzigste, frechste und gefährlichste Bub in der ganzen Gegend – das ist alles gelogen, aber es gefällt mir besser als die Wahrheit. Doch wenn Sie nicht wissen, wie elend das ist, der schlechteste Turner der Klasse sein zu müssen, dann können Sie nicht ermessen, warum mir das gefällt. Vielleicht schreibe ich, weil ich ein schlechter Turner war.
Ich liebe Spiegel, von mir ist nicht viel Wahrheit über mich zu erfahren, ich denke zuviel an mich. Und ich schreibe also, und dann streiche ich durch, lösche aus, was geschrieben ist, übe schreibend, was mir schwerfällt: zu schweigen. Was auf dem Papier stehenbleibt, ist hergestellt, imitiert, hergestellte Monologe, imitierte Gespräche. Ich baue mir auf Papier eine Welt, sie soll der wirklichen gleichen. Ich bespiegle mich, schreiben ist ein eitles Geschäft, ein mühseliges auch, ein gefährliches vielleicht, und ich kenne die Frage, die Sie mir darauf stellen möchten; ich kann sie nicht beantworten: Ich weiss nicht, warum ich schreibe.
Auch Lesen macht mir sehr Mühe, es strengt mich an, und es macht mir Eindruck, dass es Leute gibt, die lesen. Es ist mir nicht selbstverständlich, gelesen zu werden, und ich bin darauf angewiesen. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie mich lesen. Ich rechne es Ihnen hoch an. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie mir weitere Leser suchen. Ich möchte viele Leser haben.
Mit herzlichen Grüssen
Peter Bichsel
Abgedruckt in: Der Jungbuchhandel, Heft 2, Februar 1968.
Die beiden Textauszüge sind aus: Peter Bichsel, Auch der Esel hat eine Seele. Frühe Texte und
Kolumnen 1963–1971
© Suhrkamp Verlag Berlin 2020
Buch
Peter Bichsel
Auch der Esel hat eine Seele. Frühe Texte und Kolumnen 1963–1971
Hg. Beat Mazenauer
351 Seiten
Erscheint am Mo, 17.2., im Suhrkamp Verlag