Die Flammen schlagen gegen die Windschutzscheibe des Polizeiautos wie Wellen gegen die Küste. Das Brandgeschoss kam wie aus dem Nichts geflogen. Und doch nicht überraschend: In der Krimi-Serie «Bloodlands» richtet sich die Gewalt gegen Polizeibeamte in Belfast, als ein katholischer Geschäftsmann verschollen bleibt. Sein Umfeld fühlt sich von der nordirischen Polizei vernachlässigt – wie damals während der «Troubles», als mehrheitlich protestantische Beamte in der Royal Ulster Constabulary (RUC) dienten und bisweilen gar mit pro-britischen Terroristen zusammenspannten.
Wenige Wochen nachdem der BBC-Vierteiler Premiere gefeiert hat, holt die Realität die Fiktion ein. Anfang April 2021 kommt es in Belfast und weiteren Orten zu schweren Ausschreitungen. Container brennen, Vermummte bewerfen Polizisten mit Steinen, Molotowcocktails zerschellen an gepanzerten Land Rovern. Doch nun sind es junge Männer aus der protestantischen Community, die auf den Strassen wüten und fast 60 Beamte des Police Service of Northern Ireland (PSNI), der Nachfolgeorganisation der RUC, verletzen.
Die «Troubles» bestimmen unser Bild von Nordirland
Auf einmal geht die Angst um, 23 Jahre nach dem Ende der «Troubles» könnte sich der Nordirlandkonflikt erneut entzünden. In der internationalen Presse fallen sich die Kommentatoren gegenseitig ins Wort: Der Brexit ist schuld! Nein, die einseitig parteiische Polizeiarbeit! Nein, die Arbeitslosigkeit unter jungen Protestanten! Der Wahrheit nähern sich die Deutungsversuche erst in ihrer Gesamtheit. Vor allem aber zeigen sie: Es ist Zeit, sich ein Bild von Nordirland zu machen, das der Realität gerecht wird. Der Konflikt, der von 1969 bis 1998 tobte, bestimmt noch immer weitgehend die Wahrnehmung im Ausland: sektiererische Graffiti und konfessionelle Gräben, Strassenschlachten und nimmermüde Paramilitärs. Was, wenn die Realität komplexer ist – schon immer war? Wie wäre es zum Beispiel mit einem Blick in die Krimi-Kultur des Landes, um sich ein ausgewogeneres Bild zu machen?
«Bloodlands» etwa zeigt das Leben im Belfast von 2020 als sensibles Gefüge zwischen kosmopolitischer Urbanität sowie alten Ressentiments und Traumata. Für die Serie steht aktuell im deutschsprachigen Raum noch kein Sendetermin fest; Krimiliteratur, die ins Deutsche übersetzt wurde, gibt es hingegen zur Genüge.
In Nordirland ist der Krimi ein noch junges Genre. Zwar erscheinen bereits ab den 1970ern Thriller, die sich mit dem Bürgerkrieg befassen. Doch die meisten sind von britischen Ex-Soldaten und US-Autoren verfasst und bedienen vor allem Klischees: katholische Terroristen, britische Helden. «Trouble Trash» heissen diese Romane bald, «Konflikt-Schund».
Erzählungen über alte und neue Spannungen
Mitte der 1990er erscheinen dann erstmals zwei Krimis von nordirischen Autoren, die vom Potenzial des Genres zeugen. In Colin Batemans «Eine Nonne war sie nicht» sucht der Journalist Dan Starky den Mörder seiner Affäre und gewährt dabei einen satirischen Einblick in Nordirlands Gesellschafts- und Politleben. Und Eoin McNamee arbeitet in «Belfaster Auferstehung» die Taten einer historisch verbürgten Gruppe probritischer Killer auf. In seinem Roman entpuppt sich Gewalt jedoch nicht als Symptom des sektiererischen Konflikts, sondern als Auswuchs individueller Abgründe.
Spätestens ab 2000 entwickelt der Krimi in Nordirland eine Art Sub-Genre, das sich nuanciert und empathisch mit dem Erbe der «Troubles», mit alten und neuen Spannungen befasst. In Stuart Nevilles «Die Schatten von Belfast» etwa wird ein Ex-Terrorist von den Geistern seiner Opfer zu Vergeltungsaktionen animiert. Neville verhandelt in seinem Mystery-Krimi Themen wie Gerechtigkeit und Vergebung.
Claire McGowan wiederum konfrontiert ihre Protagonistin Paula Maguire sowohl mit den Traumata der «Troubles» als auch mit aktuellen Problemen.
So muss sich die forensische Psychologin mit ihrer eigenen Familiengeschichte auseinandersetzen: Ihre Mutter gehört zu den «Verschwundenen» des Bürgerkriegs. Später drehen sich ihre Fälle aber auch um die Folgen des rigiden Abtreibungsverbots und um Nordirlands anhaltende wirtschaftliche Fragilität.
Adrian McKinty arbeitet wie ein Forensiker
Am spannendsten ist zweifelsohne Adrian McKintys Sean-Duffy-Reihe, deren achter Band «Alter Hund, neue Tricks» 2020 in deutscher Übersetzung erschien. Im Verlauf der Serie führt McKintys so zynischer wie witziger Kriminalkommissar Sean Duffy die Leser durch das Belfast der 1980er und eine Gesellschaft, die allerlei Kräften ausgesetzt ist. Es gibt zwar die Krawalle und die selbstherrlichen wie widersprüchlichen Paramilitärs mit ihrer «Buchstabensuppe von Abkürzungen». Aber McKinty zeichnet das Bild seines Heimatlandes eher in Grau als in Schwarzweiss: Nordirland ist ständiger Spielball wirtschaftlicher und politischer Kämpfe auswärtiger Mächte. Und die Bevölkerung leidet weniger unter dem sektiererischen Konflikt als unter Arbeitslosigkeit, patriarchal-religiösen Machtstrukturen, häuslicher Gewalt und Abtreibungsverbot. So erinnern Adrian McKintys Romane an die Arbeit eines Forensikers. Er analysiert die Zeit der «Troubles» – und deutet auf die Spuren und Klischees hin, die der Bürgerkrieg in der Gegenwart hinterlässt. Wie sagt Sean Duffy im fünften Band «Rain Dogs» einmal zu den Lesern? «Ich weiss, was Sie denken: Feuergefecht, Regen, Irland. Aber Sie wissen gar nichts.»
Buch
Adrian McKinty
Alter Hund, neue Tricks
(Buch 8 der Sean- Duffy-Reihe)
380 Seiten
(Suhrkamp Verlag 2020)
Claire McGowan
Niemand wird dich finden
(Buch 1 der Paula-Maguire-Reihe)
480 Seiten
(Goldmann 2014)
Stuart Neville
Die Schatten von Belfast
448 Seiten
(Aufbau Verlag 2012)
Colin Bateman
Eine Nonne war sie nicht
312 Seiten
(Bastei Lübbe 1996)
Eoin McNamee
Belfaster
Auferstehung
275 Seiten
(Rotbuch 1996)