Krimi/Thriller
Hideo Yokoyama: 64, 766 Seiten (Atrium 2018)
Im Januar 1989 wurde die siebenjährige Shoko entführt und ermordet. 14 Jahre später will die Polizeizentrale in Tokio den ungelösten Fall «64» kurz vor der Verjährung erneut aufrollen, um die Macht in der Polizeiaussenstelle an sich zu reissen. Deren Pressechef Mikami recherchiert, stösst auf Ungereimtheiten bei den früheren Ermittlungen und schlittert hinein in den Machtkampf zwischen Zentrale und Aussenstelle. Der japanische Autor schildert aus der Perspektive Mikamis einen hermetischen Polizeiapparat, in dem die Hierarchie und die Angst vor Gesichtsverlust alles bestimmen. Der Roman ist das Porträt einer verstörend fremdartigen Gesellschaft und ein grandioser Thriller. Im letzten Drittel ereignet sich eine neue Entführung, die der von Shoko bis ins Detail ähnelt. Doch nichts ist, wie es scheint. (eb)
Michael Kobr, Volker Klüpfel: Kluftinger, 475 Seiten (Ullstein Verlag 2018)
Band 10 der erfolgreichen, seit 2003 laufenden Krimireihe des Autorenduos Kobr und Klüpfel heisst schlicht «Kluftinger», so wie sein Protagonist, dessen Vornamen hier erstmals genannt wird. Kluftinger, Ermittler im Allgäu, ist ein eigenwillig-altmodischer Mensch, der in technischen Belangen der Gegenwart tüchtig hinterherhinkt. Diesmal geht es um Kluftinger selber, der sich mit der eigenen Vergangenheit konfrontiert sieht. Mit dabei: ein Hund namens Wittgenstein («wie der Philosoph»). (hau)
Pirmin Müller: Das Restrisiko beim Transport von Südfrüchten, 207 Seiten (Boox Verlag 2017)
Eigentlich läuft alles nach Plan für den Trucker Luc Rapin. Mit einer Ladung spanischer Orangen ist er unterwegs Richtung Schweiz. Durchs offene Fenster wehen die Düfte der Provence in die Kabine. An einer Raststätte nimmt er einen gestrandeten Schweizer auf. Dann steigt noch Aziz ein, der den Sattelschlepper kurzerhand entführt und Lucs bisher ruhiger Fahrt eine dramatische Wendung gibt. Dem Zürcher Pirmin Müller ist ein so spannender wie stimmungsvoller Krimi mit Tiefgang gelungen. (fn)
Schweizer Literatur
Fanny Wobmann: Am Meer dieses Licht, 128 Seiten (Limmat Verlag 2018)
Ein Meer gibt es nicht in La Chaux-de-Fonds, wo die Protagonistin Laura lebt. «Fast wie das Licht des Meeres» steht aber am Schluss. Und: «Dann gehst du.» Es ist eine Anrede an die Grossmutter im Heim. Die alte Frau will sterben. Laura erzählt, was während ihres Sprachaufenthalts in London war. Aus England ist sie schwanger zurückgekehrt, begegnete dem «weissen Mann». Solcher Art ist der eigene, zart poetische Ton von Wobmanns Prosa: «… bin ich wie der Schwan. Ich stecke meinen Schnabel in alle diese Welten, die nicht meine sind, in den Teich geworfen mit dem Geräusch von Zeit, die vergeht, von Menschen, die sich flüchtig berühren.» Ein schönes Buch, dieser zweite Roman der vielversprechenden Autorin. (hau)
Dana Grigorcea: Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen, 128 Seiten (Dörlemann 2018)
Diese Novelle im tiefroten Leinenband verspricht luftig-leichte Sommerlektüre: Die begüterte Zürcher Ballerina Anna und der kurdische Gärtner Gürkan verbindet vorderhand nicht viel. Und doch fühlen sie sich voneinander angezogen, lassen sich auf einen «Pas de deux» ein. Autorin Dana Grigorcea erzählt in Anlehnung an Anton Tschechows «Die Dame mit dem Hündchen» von einer Sommer-Affäre, die tiefer geht. Eine poetische Geschichte über Glück, Wehmut und die Frage, was wirklich zählt im Leben. (bc)
Alice Grünfelder: Die Wüstengängerin, 220 Seiten (Edition 8 2018)
Die Sinologin und Autorin Alice Grünfelder schildert aus europäischer Perspektive den Freiheitskampf der Uiguren gegen die chinesische Regierung. Die Sinologin Roxana reist in den 90ern in den Nordwesten Chinas, doch ihre Spur verliert sich in der Wüste. 20 Jahre später stösst die Entwicklungshelferin Linda auf die Aufzeichnungen der Verschollenen. Kenntnisreich spinnt die Autorin eine Geschichte rund um persönliche Schicksale und den Kampf einer Minderheit um Gerechtigkeit. (bc)
Sachbuch
Robin Lane Fox: Der englische Gärtner, 457 Seiten (Klett-Cotta 2018)
Der emeritierte Dozent Robin Lane Fox ist ein renommierter Antike-Historiker. Er schrieb wegweisende Biografien über Alexander, den Grossen, und den spätrömischen Philosophen Augustinus von Hippo. Zum Ausgleich seiner wissenschaftlichen Tätigkeit betreut Lane Fox die ausgedehnten Gärten der Universität von Oxford. Diese Tätigkeit beschreibt er in seinem Buch «Der englischer Gärtner», das nun auf Deutsch herausgekommen ist. Lane Fox ist überzeugt, «dass unsere Gärten nichts mit der Natur zu tun haben». Sie seien allesamt künstlich angelegt, und er hält das Chemie-Unternehmen Bayer für «den besten Freund des Gärtners»: «Ohne sachverständig eingesetzte chemische Waffen würden die Massnahmen von Gärtnern und Bauern in ein Chaos ausufern.» Um diese Erkenntnis zu belegen, folgt ein Loblied auf das deutsche Produkt «Imidacloprid», das laut Lane Fox richtig eingesetzt im Garten angeblich ein Segen ist. Auch stören ihn Tiere, die sich gütlich tun in seinem Blumenreich, da hilft im Extremfall nur Abschiessen, sagt er in einem Interview. Der Autor ist ein konservativer Querdenker, dem politische Korrektheit schnuppe ist. (hü)
Wolfram Eilenberger: Zeit der Zauberer. Das grosse Jahrzehnt der Philosophie 1919–1929, 400 Seiten (Klett-Cotta 2018)
Ernst Cassirer, Martin Heidegger, Ludwig Wittgenstein, Walter Benjamin sind die Namen der Kreativköpfe, die «Sternstunden»-Moderator Eilenberger in seinem Buch vorstellt. Jeder der Philosophen hat auf seine Weise das Denken revolutioniert im Zwischenkriegs-Jahrzehnt 1919–1929. Eilenberger verlebendigt detailreich und spannend die originären Gedankenwelten, die über ihre Epoche bis ins Heute hinein weiterwirken – in aller Gegensätzlichkeit. (hau)
Pippo Pollina: Verse für die Freiheit, 392 Seiten (Rotpunkt Verlag 2018)
Vor gut 30 Jahren hat sich Pippo Pollina in der Schweiz niedergelassen. Doch der Cantautore aus Sizilien ist ein Reisender geblieben. Mit 54 legt er nun ein Journal seines bisherigen Schaffens vor, chronologisch geordnet nach seinen 16 Studioalben seit 1987. Pollina beschreibt deren Entstehung, erzählt offen über Zweifel, Rückschläge, Entwicklungen und macht biografische Krisen an zeitgeschichtlichen Wegmarken fest. Eine spannende Lektüre über Musik, Kultur und Politik zwischen Palermo und Zürich. (fn)
Internationale Literatur
Haruki Murakami: Die Ermordung des Commendatore I+II, 480+496 Seiten (DuMont Buchverlag 2018)
«Etwas sehen und etwas verstehen sind zwei sehr verschiedene Dinge», heisst es im zweibändigen Roman des japanischen Erfolgsautors Haruki Murakami. Der namenlose Ich-Erzähler erklärt auch: «Den Commendatore gab es wirklich.» Die Figur erscheint auf einem Gemälde, das der Erzähler im abgelegenen Haus eines weltberühmten Malers findet. Eine Figur, die auf Mozarts Oper «Don Giovanni» verweist. Im Buch wird die Figur auf wundersame Weise lebendig, tritt, im Miniformat, aus dem Bild heraus. Dem Haus gegenüber liegt eine Villa, die einem IT-Unternehmer gehört, der sich vom Erzähler porträtieren lassen will. Murakami verknüpft eine Fülle von Motiven aus der Romantik, der griechischen Antike, Film-, Literatur- und Musikgeschichte zu diesem fantastischen Kunstroman, wo am Schluss vieles zerstört ist. Es ist im gewohnt einfachen, aber sehr süffigen Stil erzählt. «Den Commendatore gibt es wirklich», heisst es am Ende. «Daran solltest du glauben.» (hau)
Ralf Rothmann: Der Gott jenes Sommers, 254 Seiten (Suhrkamp 2018)
Die 12-jährige Luisa erlebt auf einem Gutshof in Schleswig-Holstein die letzten Kriegsmonate. Sie verschlingt nachts «Karl May» und «Effie Briest», erfährt ihre erste Liebe, aber auch Fliegerangriffe und Gewalt. Rothmann setzt sich erneut mit der Kriegserfahrung seiner Eltern auseinander. Im Roman «Im Frühling sterben» (2015) begleitete er seinen Vater an die Front. Auch im neuen Werk sind die Überlebenden Opfer. Seine Figuren sind nicht frei von Klischees, aber seine kraftvoll-sinnliche Sprache überzeugt. (eb)
Ferdinand von Schirach: Strafe, 189 Seiten (Luchterhand 2018)
Recht und Gerechtigkeit haben weniger gemeinsam, als man denkt: Das ist die Hauptthese des deutschen Autors und früheren Rechtsanwalts Ferdinand von Schirach. In «Strafe» rekapituliert er zwölf verfremdete Rechtsfälle, die sich in unterschiedlichen Milieus abspielten. Dazu gehört das Drama eines Mannes, der einen sinnlosen Mord begeht, weil ihm die Umgebung seines idyllisch gelegenen Wohnhauses verbaut wurde. Die Geschichten gehen ans Herz, weil klar wird, dass Gerechtigkeit für Opfer und Täter fast immer unmöglich ist. (hü)