Träume
Im vergangenen Jahr gab ich eine Anzeige in der «Niederschlesischen Börse» auf, darin stand, dass ich Träume sammele. Aber ich wurde bald enttäuscht, denn die Leute wollten mir ihre Träume verkaufen. «Machen wir einen Preis aus», schrieben sie. «Ich schlage zwanzig Zloty pro Traum vor. Das ist ein anständiger Preis.» Deshalb gab ich meinen Plan auf, ich wäre sonst an den fremden Träumen pleite gegangen. Ich hätte befürchtet, dass sie sich fürs Geld Träume ausdenken. Träume haben ihrer Natur nach nichts mit Geld zu tun.
Aber dafür fand ich eine Seite im Internet, wo die Leute von sich aus ihre Träume aufschrieben, und zwar umsonst. Jeden Morgen erscheinen dort neue Beschreibungen in allen möglichen Sprachen. Die Leute schreiben ihre Träume für andere auf, für fremde Menschen, die andere Sprachen sprechen, aus Gründen, die ich eigentlich nicht verstehen kann. Vielleicht ist der Wunsch, die eigenen Träume zu erzählen, so stark wie der Hunger. Vielleicht ist er bei denen sogar noch stärker, die gleich nach dem Aufwachen, noch vor dem Frühstück, den Computer anschalten und schreiben: «Ich habe geträumt, dass …» Dann fasste ich selbst Mut. Zuerst schrieb ich einen kleinen, völlig unbedeutenden Traum auf. Das war meine Eintrittskarte, mit der ich das Recht erwarb, die anderen, fremden Träume zu lesen. Und so wurde es mir zur Gewohnheit, jeden Morgen diese Computerwelten zu öffnen, die winterlichen, wenn es noch dunkel ist und der Kaffee in der Küche dampft, und die sommerlichen, wenn die Fenster schon voller Sonne sind, die Tür von der Diele auf die Veranda offensteht und die Hunde von ihrem Rundgang durch ihr Gelände zurückkommen.
Wenn man das regelmässig macht, wenn man jeden Morgen aufmerksam Dutzende und sogar Hunderte fremder Träume liest, stellt man leicht fest, dass die Träume Ähnlichkeiten aufweisen. Ich frage mich schon lange, ob andere das auch bemerken. Es gibt Fluchtnächte und Kriegsnächte, Säuglingsnächte und Nächte zwielichtiger Liebschaften. Nächte des Herumirrens in Labyrinthen – in Hotels, auf Bahnhöfen, in Studentenwohnheimen und eigenen Wohnungen. Und Nächte, in denen Dinge geöffnet wer-den – Türen, Schachteln, Kästen und Schränke. Oder Reisenächte, in denen die Träumenden mit Bahnhöfen, Flughäfen, Zügen, Autobahnen und Motels zu tun haben, in denen sie Koffer verlieren, auf Fahrkarten warten, fürchten, einen Anschluss zu verpassen. Jeden Morgen könnte man diese Träume wie Perlen auf eine Schnur reihen, und es würde sich eine sinnvolle Ordnung ergeben, eine einmalige, unwiederholbare Halskette, die aber vollständig, schön und in sich geschlossen wäre. Man könnte es wagen, die Nächte nach den jeweils am häufigsten vorkommenden Motiven zu benennen, ihnen Titel zu geben: «Nacht der Speisung der Schwachen und Gebrechlichen», «Nacht der Dinge, die vom Himmel fallen», «Nacht der seltsamen Tiere», «Nacht der erhaltenen Briefe», «Nacht des Verlustes kostbarer Dinge». Vielleicht ist das noch zu wenig, vielleicht sollte man die Tage nach den Träumen der Nächte benennen. Oder ganze Monate, sogar Jahre, Epochen, in denen die Menschen ähnlich träumen, in einem gleichen Rhythmus, der nicht mehr erkennbar ist, sobald die Sonne aufgeht.
Würde jemand das erforschen, was ich nur betrachte, würde man die Traumgestalten, die Bilder und Gefühle der Träume summieren, daraus Motive erstellen und das Ganze unter Einbeziehung all der Korrelationstests, die wie ein Zauberleim dem Anschein nach unvereinbare Dinge miteinander verbinden, statistisch berechnen, entdeckte man darin vielleicht einen Sinn, eine Ordnung, die dem Muster ähnlich ist, nach dem in dieser Welt die Börsen oder die grossen Flughäfen funktionieren – eine Karte untergründiger Verbindungen oder starrer Pläne. Unberechenbarer Ahnungen und ausgetüftelter Algorithmen.
Auszug aus:
Olga Tokarczuk
Taghaus, Nachthaus
Aus dem Polnischen von Esther Kinsky
352 S. (Kampa 2019)
Erscheint im Nov. in einer Neuausgabe
5 Fragen an Verleger Daniel Kampa
«Wir sind durch die letzten zwei Wochen geschwebt»
kulturtipp: Seit der Bekannt-gabe des Literaturnobelpreises wird im Kampa Verlag Euphorie und ein riesiger Trubel herr-schen. Wie sieht Ihr Arbeits-alltag momentan aus?
Daniel Kampa: Erst einmal empfinden wir das alles als ganz grosses Glück, ein Glück, das uns durch die letzten zwei Wochen hat schweben lassen, trotz der gewaltigen Arbeitsbelastung für alle im Verlag und sehr wenig Schlaf. Plötzlich riefen schwedische oder US-amerikanische Fernseh- und Radiosender bei uns an, die wissen wollten, wann sie «Olga» interviewen könnten. Da die Autorin bei Verkündung des Nobelpreises mit den «Jakobsbüchern» in Deutschland auf Lesereise war und wir sie auch auf die Frankfurter Buchmesse eingeladen hatten, lief ein Grossteil der Kommunikation über uns. Das war logistisch anspruchsvoll, aber mein Team hat sich mit ungeheurer Verve engagiert und enorme Kräfte freigesetzt. Die diesjährige Buchmesse war wohl die anstrengendste, aber gewiss auch die schönste, die ich in den über 25 Jahren, die ich nun schon in der Verlagsbranche bin, erlebt habe.
Olga Tokarczuks Werk galt bisher als Geheimtipp. Wie haben Sie die Autorin entdeckt, und welches Potenzial haben Sie in ihr gesehen?
Ganz einfach: Sie ist schlicht eine fantastische Erzählerin und eine enorm vielseitige dazu, ihre Themen sind universell, gehen uns alle an. Olga Tokarczuk ist seit Jahren eine meiner Lieblingsautorinnen. Ich bekam ihren neuesten Roman «Die Jakobsbücher» angeboten und musste überlegen: 1200 Seiten bringen einen kleinen Verlag an seine Grenzen. Das Risiko war gross. Allein für das Papier mussten wir 12 000 Euro vorab zahlen. Aber als kleiner Verlag kann man auch mal etwas Verrücktes machen. Und das haben wir getan, indem wir nicht nur Tokarczuks Opus magnum übersetzen liessen, sondern gleich ihr Gesamtwerk – sieben weitere Titel – übernahmen.
Welches Buch empfehlen Sie als Einstieg in ihr Werk?
Der neueste Roman «Die Jakobsbücher» bietet sich mit seinen fast 1200 Seiten vielleicht nicht unbedingt als Einstieg an, wobei das ein ungemein packendes, lebendiges Buch ist, ein grosser historischer Roman, der zugleich viel über unsere Gegenwart erzählt. Der Roman «Unrast», für den die Autorin 2018 mit dem International Man Booker Prize ausgezeichnet wurde und der ihr weltweiten Ruhm verschafft hat, eignet sich vielleicht besser für Tokarczuk-Anfänger. Oder «Gesang der Fledermäuse», ein hinreissender, auch sehr komischer Roman, der wichtige Themen wie Natur- und Tierschutz behandelt, verpackt in eine Krimihandlung.
«Die Jakobsbücher» und «Unrast» werden Sie jetzt bestimmt so schnell wie möglich nachdrucken lassen. Wann rechnen Sie mit Nachschub? Wird der Druck der bereits geplanten Bücher vorgezogen?
Die erste Auflage der «Jakobsbücher» war mit 3000 Exemplaren vorsichtig kalkuliert. Die zweite Auflage, die sich auf 12 000 Exemplare beläuft, wird Ende Oktober lieferbar sein. Die nächste Auflage von «Unrast», 15 000 Exemplare, ist sogar schon im Handel. Ausserdem bereiten wir gerade Neuausgaben älterer Romane vor: «Taghaus, Nachthaus», «Ur und andere Zeiten» und «Gesang der Fledermäuse» werden, wenn alles gut geht, Mitte November im Buchhandel erhältlich sein. Sie sehen also, wir wirbeln weiter.
Der Werbeeffekt ist gigantisch. Ist der Literaturnobelpreis nur ein riesiger Glücksfall – oder stösst ein kleiner Verlag damit an die Grenzen? Ist damit auch ein finanzielles Risiko verbunden?
Auch bei den Nachdrucken lassen wir Vorsicht walten. Es soll kleine Verlage geben, für die der Nobelpreis in wirtschaftlicher Hinsicht schwierig war, weil in der Euphorie zu viele Bücher gedruckt wurden. Die Buchhändler können ja – und das gibt es in anderen Branchen nicht – die unverkauften Bücher zurückschicken. Wenn wir vorsichtig sind, ist auch das finanzielle Risiko begrenzt. Aber ein Liquiditätsproblem gibt es dennoch: Die Zahlungsziele sind sehr lang, das Geld für die Bücher, die wir jetzt verkaufen, bekommen wir erst in zwei, drei Monaten zurück.
Bücher
Olga Tokarczuk
Die Jakobsbücher
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein
1184 Seiten
(Kampa 2019)
Olga Tokarczuk
Unrast
Aus dem Polnischen von Esther Kinsky
464 Seiten
(Kampa 2019)