Mit Billy Idol, Simple Minds und anderem 80er-Sound im Ohr ist Benedict Wells jeweils stundenlang draussen herumgestreift und hat sich von den Songs für seinen neuen Roman «Hard Land» inspirieren lassen. «Wie immer war Musik mein Schlüssel», sagt der 36-jährige Bestsellerautor, der nach Jahren in Barcelona in Zürich lebt. Seinen neuen Roman wird er auf einer musikalischen Lesetour mit dem Singer-Songwriter Jacob Brass auch in der Limmatstadt vorstellen. Zu jedem seiner Romane hat Wells den passenden Soundtrack für Spotify und Youtube erstellt. Lesend und gleichzeitig hörend kann man so in seine atmosphärischen Romanwelten abtauchen.
In seinem tragikomischen Coming-of-Age-Roman «Hard Land» nimmt Wells seine Leserinnen und Leser mit ins Jahr 1985, in ein US-Kaff in Missouri. Hier lebt der 15-jährige Sam, ein schüchterner Aussenseiter, dem der Sommer seines Lebens bevorsteht. Er nimmt einen Ferienjob in einem alten Kino an und lernt dort die quirlige Kirstie und ihre Freunde Cameron und Hightower kennen. Die drei sind etwas älter als er und vorerst nicht darauf erpicht, ihn in ihre verschworene Clique aufzunehmen. Doch bald kommt er ihnen näher, und Sam erlebt in diesem Sommer eine Achterbahnfahrt der Gefühle: von rauschenden Partys und der ersten Verliebtheit bis zum Tod seiner an Krebs erkrankten Mutter.
Benedict Wells trifft in seinem berührenden Buch den Ton und die Stimmung der Jugend: Diese intensive Zeit, in der vieles zum ersten Mal erlebt wird und in der Euphorie und Melancholie sich die Waage halten. Seine Figur Kirstie erfindet für dieses Gefühl das Wort «Euphancholie»: «Einerseits zerreisst’s dich vor Glück, gleichzeitig bist du schwermütig, weil du weisst, dass du was verlierst oder dieser Augenblick mal vorbei sein wird. Dass alles mal vorbei sein wird.» Verbunden ist dieses unvergleichliche, nie wiederkehrende Lebensgefühl auch mit der Musik – und in «Hard Land» ebenso wichtig – mit den Filmen der 80er-Jahre, die dem Roman den Takt und die Bilder vorgeben.
Durch seine Zeilen pulsiert der Punk
Vom wütenden, energiegeladenen Punk der späten 70er-Jahre hat sich der französische Autor Thomas Reverdy beim Schreiben treiben lassen. Sein neuer Roman «Ein englischer Winter» spielt in den Strassen Londons 1978/1979: im Winter des politischen und gesellschaftlichen Chaos, in dem die Labour-Regierung und das Empire bröckeln, Arbeiterstreiks ganz Grossbritannien lahmlegen, sich die Abfallberge türmen, die Arbeitslosigkeit steigt und der Boden gelegt wird für Margaret Thatchers neoliberale Politik der sozialen Ungleichheit. Reverdy stellt jedem Kapitel einen Songtitel voraus: «London Calling» von The Clash, Marianne Faithfulls Coverversion von John Lennons «Working Class Hero» oder «Anarchy in the UK» der Sex Pistols geben die damalige aufgeheizte Stimmung wieder.
Im Mittelpunkt seines Romans steht die selbstbewusste, 20-jährige Schauspielerin Candice, die in ihrem Brotjob als Velokurierin durch Londons Strassen flitzt. «Candice kann mit den Beatles nichts anfangen, sie braucht eine Energie, die näher an der Härte der Strasse ist», heisst es über sie. Abends probt sie mit ihrer Theatergruppe ihre Hauptrolle als König Richard III. in der gleichnamigen Shakespeare-Tragödie. Und sie macht sich beim Tagebuch-Schreiben Gedanken zum Machtgefälle, das sie durch die prekäre Situation im Land und als Frau in einer von Männern dominierten Welt erfährt.
Mit diesen wiederkehrenden Journaleinträgen will Reverdy auch ins Innere seiner Protagonistin leuchten, streut in die Handlung sogar noch eine sich anbahnende Liebesgeschichte mit einem Jazzmusiker ein. Doch Candices Befinden und die Liebesstory bleiben Nebenstränge. Reverdy geht es vor allem darum, die soziale und wirtschaftliche Krise im damaligen Winter des Umbruchs kritisch zu beleuchten. Die Kritik am Establishment verdeutlichen die Punksongs: Im Anhang liefert der Schriftsteller eine Liste der Punkrock-Alben, die durch seine Zeilen pulsieren und den Rhythmus des Romans vorgeben.
Bücher
Thomas Reverdy
Ein englischer Winter
Aus dem Französischen von Brigitte Grosse; 208 Seiten
(berlin verlag 2021)
Benedict Wells
Hard Land
352 Seiten
(Diogenes 2021)
Erhältlich ab Mi, 24.2.
Soundtrack zum Roman
www.benedictwells.de/soundtracks/
Oder über Spotify und Youtube
Radio
52 beste Bücher: Benedict Wells zu Gast bei Felix Münger
So, 28.2., 11.03 Radio SRF 2 Kultur