«Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.»
«Der Prozess», 1914/1915
«Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.» «Die Verwandlung», 1912
Franz Kafkas berühmte erste Sätze ziehen auch heute noch in einen Strudel, aus dem es kein Entrinnen gibt. Seine Figuren, das ist von Anfang an klar, sind verloren. Auch wenn sie es immer wieder von Neuem versuchen, scheitern sie im Kampf gegen undurchsichtige Machtapparate, autoritäre Figuren und nervenzehrende Bürokratie. In diesem Kontrollverlust, dem Ausgeliefertsein, ortet Rémi Jaccard, Leiter des Literaturmuseums Strauhof, unter anderem die ungebrochene Faszination für Kafkas Texte.
Es sind Gefühle, die alle Menschen kennen – und die in unsicheren Zeiten besonders stark sind. «Kafka hat wie wir heute in einer Umbruchszeit gelebt, im Fin de Siècle und im Ersten Weltkrieg. Die Verlorenheit und Hilflosigkeit von damals spiegeln sich auch im Heute», sagt er.
«Wir wollen den Autor zu Wort kommen lassen»
Während zwei Arbeiter im Untergeschoss hämmern und bohren, um im Strauhof eine kafkaeske Welt zu erschaffen, führt Jaccard auf einen ersten Rundgang durch die Ausstellung «Türen, Tod & Texte». «Kafka hat viel geschrieben, aber noch viel mehr wurde posthum über ihn geredet. Darum wollen wir zuerst den Autor selbst zu Wort kommen lassen.»
Im Erdgeschoss werden Auszüge aus Briefen und Tagebüchern ausgestellt. Sie zeigen, wie der Prager Autor, der tagsüber in der «Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt» arbeitete, nachts mit dem Schreiben gerungen hat. In Audioinstallationen erklingen seine von Schauspielern gelesenen Texte. Aufgegriffen wird darin auch das Motiv der Türe: «Dieser Schwellenmoment taucht bei Kafka oft auf», sagt Jaccard. «Seine Themen wie Angst, Macht oder Scham stehen im direkten Bezug mit dem Türenmotiv.»
Zudem werden einige von Kafkas Zeichnungen grossformatig zu sehen sein – darunter solche, die 2019 in einem Zürcher Safe entdeckt wurden und für eine Sensation in Literaturkreisen sorgten. Die Holztreppe führt in den oberen Stock, wo der Baulärm abebbt. Hier steht die Wirkungsgeschichte im Fokus. Zu Wort kommt natürlich Kafkas Freund und Nachlassverwalter Max Brod. In Videos, Audioinstallationen und Texten berichten hier aber auch Literaten über ihre Kafka-Faszination.
Zu hören sind zudem Kafka-Expertinnen wie die Philosophin Judith Butler, welche die Querelen um den Nachlass ausführt. «Mit Kafka lässt sich viel Geld machen», sagt Jaccard. «So wurde etwa sein Manuskript zum ‹Prozess› 1988 für 2 Millionen Doller verkauft.»
Hör-, Seh- und Denkabenteuer
Kafka, der am 3. Juni 1924 mit nur 40 Jahren an Tuberkulose starb, ist längst Kult. Klar, dass er im Jubiläumsjahr 2024 auf allen Kanälen präsent ist. Bereits angelaufen ist im Theater Basel das Stück «Ein Kafka-Projekt» von Regisseurin Saar Magal. Sie nimmt den «Prozess» als Ausgangspunkt für ihren performativen Abend zwischen Tanz, Schauspiel und Musik und verwebt darin weitere Texte.
Im Fokus stehen die Momente, wenn die Realität kippt, wenn sich Perspektiven verschieben, sich Figuren in Tiere verwandeln und konfrontiert werden mit der «Lächerlichkeit des menschlichen Bemühens». Die Bühne funktioniert dabei als Archiv, das einem Gefängnis gleicht. In kafkaesken Szenerien schlagen sich Tänzerinnen und Schauspieler kletternd und hangelnd durch.
Ein «alle Sinne forderndes Hör-, Seh- und Denkabenteuer» verspricht derweil das Opernhaus Zürich. Hier inszenieren Regisseur Sebastian Baumgarten und Dirigent Gabriel Feltz Kafkas Romanfragment «Amerika» als multimediale Oper von Roman Haubenstock-Ramati. Auch im Film wird Kafka gefeiert: Im Kino läuft im März das Liebesdrama «Die Herrlichkeit des Lebens» an, das sich auf das letzte Lebensjahr von Kafka (Sabin Tambrea) konzentriert, als er an einem Ostseestrand Dora Diamant (Henriette Confurius) kennenlernt.
Der von Selbstzweifeln geplagte, kranke Schriftsteller und die lebensfrohe Schauspielerin bleiben bis zum bitteren Ende zusammen. Am TV ist zudem die sechsteilige ARD-Serie «Kafka» nach dem Drehbuch von Daniel Kehlmann zu sehen – mit Joel Basman in der Hauptrolle. Zum Jubiläum gibts auch zahlreiche literarische Neuerscheinungen. Besonders interessant ist etwa die neu aufgelegte Comicbiografie «Kafka» von David Zane Mairowitz und Robert Crumb.
Der Autor und der Illustrator widmen sich unter anderem anhand von Briefen und Werk-Auszügen kenntnisreich Kafkas Welt – von der Kindheit bis zum posthumen Kafka-Kult.
4 Fragen an die Autorin Dana Grigorcea
Im Band «Kafka gelesen» sind 27 Texte von zeitgenössischen Literaten versammelt, die über ihr Verhältnis zu Kafkas Werk schreiben. Darunter die schweizerisch-rumänische Autorin Dana Grigorcea.
Was bedeutet Ihnen Kafkas Werk für Ihr eigenes Schreiben?
Dana Grigorcea: Kafkas Literatur ist keine leichte Kost: Die Themen sind albtraumhaft, die Sätze trocken. Nichts, was die Leser aufbauen würde, nicht wahr? Und doch wohnt seinen Geschichten eine Menschlichkeit inne, die zutiefst berührt. Diese Sehnsucht nach Dazugehören und Liebe treibt alle Autorinnen und Autoren beim Schreiben an, auch mich.
«Es war bei Kafka, wo ich die wirksamsten Bannsprüche gegen die Angstlähmungen fand, das Gegengift für meine Erfahrungen von Diktatur und Willkür», schreiben Sie im Band «Kafka gelesen». Wo können Sie in seinen Texten Parallelen zur Situation im kommunistischen Rumänien sehen?
Kafkas grosses Thema ist die Ohnmacht: Da wacht jemand aus unruhigen Träumen als Ungeziefer auf und wird von der Familie verstossen. Oder er versucht, zu arbeiten wie bisher, und scheitert an der mysteriösen Unerbittlichkeit der Welt. In der Geschichte «Der Bau» gräbt ein maulwurfartiges Wesen schalldichte unterirdische Gänge und fühlt sich beim Wühlen plötzlich verfolgt. Genau so eine dumpfe Angst hatte ich als Kind in der kommunistischen Diktatur, aber ich hatte keine Sprache dafür, keine Bilder. Ich war im Dunkeln, bis ich zur Literatur fand. Ist das Böse einmal benannt, wird der Umgang damit leichter.
In «Kafka gelesen» gehen Sie auf seine Erzählung «Josefine, die Sängerin» ein über eine Maus, die als Sängerin in einer kunstfeindlichen Welt lebt. Wie behandelt Kafka in seinem Werk die Rolle der Kunst in der Gesellschaft?
Kaum ein Künstler, eine Künstlerin kann von der Kunst leben. Fast alle klagen die unsensible, kunstferne Welt an – wie Kafka und seine Josefine. Da kommt die Frage auf: Wozu überhaupt auf der Kunst beharren? Das ist übrigens auch die Frage meines neuen Romans «Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen». Wie gelingt es einem Künstler, sich aus seinem engen Alltag zu erheben – sich von allem frei zu machen für die Kunst? Was kann Kafkas Werk uns heute noch sagen? Kafkas Werk schafft ikonische Bilder – wie die Stummfilme seiner Zeit, die aber mit der alten Technik untergingen. Es sind Aufnahmen mit Weitwinkel, in denen ein Mensch immer weiter nach hinten gedrängt wird und dabei schrumpft. Das betrifft ja nicht nur Kafkas Prag zwischen den Weltkriegen, sondern auch unsere heutige Zeit mit den fortbestehenden Machtgefällen, den kleinen Menschen und den so unsinnigen Kriegen. Kafkas Literatur hält uns einen Spiegel vor, seit 100 Jahren.
Gespräch
Was mir Kafka bedeutet?
Mit Dana Grigorcea, Marcel Beyer, Sasha Marianna Salzmann
Do, 14.3., 19.30
Literaturhaus Zürich
Buch
Kafka gelesen
Hg. Sebastian Guggolz
272 Seiten
(Fischer 2024)
Erscheint am Mi, 13.3.
Kafka-Veranstaltungen
Ausstellung
Kafka – Türen, Tod & Texte
Do, 8.2.–So, 12.5., Strauhof Zürich
Theater
Ein Kafka-Projekt
Bis Mo, 6.5., Theater Basel
Oper
Amerika
Premiere: So, 3.3., 19.00 Opernhaus Zürich
Film
Die Herrlichkeit des Lebens
Regie: Georg Maas und Judith Kaufmann
Ab Do, 21.3., im Kino
TV-Serie
Kafka
Di/Mi, 26.3./27.3., jew. ab 20.15
Das Erste
Buch
David Zane Mairowitz, Robert Crumb
Kafka
176 Seiten
(Reprodukt 2024, Taschenbuch)