kulturtipp: Mit «Die Freiheit einer Frau» haben Sie Ihrer Mutter eine eigene Erzählung gewidmet. Wieso?
Édouard Louis: Ursprünglich wollte ich ein Buch über Selbsterfindung schreiben. Zum einen über meine eigene Metamorphose als jemand, der aus einer Kleinstadt im Norden Frankreichs flüchtet und in Paris das schwule Leben und die Bourgeoisie entdeckt. Gleichzeitig sollte es um die Transformation meiner Mutter gehen, wie sie nach 20 Jahren meinen Vater loswurde. Aber das funktionierte so nicht, also trennte ich die beiden Geschichten voneinander – und siehe da, es klappte.
Darüber hinaus spielte auch ein altes Foto Ihrer Mutter eine entscheidende Rolle...
Richtig. An einem verregneten Tag regelte ich zu Hause Papierkram. Dabei stiess ich auf ein Foto meiner Mutter, auf dem sie 18 Jahre alt ist. Sie wirkt darauf voller Hoffnung, glücklich und ein bisschen verführerisch. Obwohl das meine Mutter ist, entsprach das Bild nicht der Frau, die ich während meiner Kindheit kannte. Meine Mutter, zehn Jahre später, war grau, traurig und lächelte selten. Ich fragte mich, was in der Zwischenzeit passiert war, und wollte eine Archäologie der Zerstörung dieses Lächelns schreiben.
Sie beide befreiten sich aus einem beklemmenden sozialen Umfeld. Ging es Ihrer Mutter ähnlich, als Sie in Paris einen Neuanfang wagte?
Wir wurden beide von der Gesellschaft ausgeschlossen, sie als Frau, ich als schwuler Mann. Aber im Gegensatz zu mir hatte meine Mutter nie die Möglichkeit, ihrer sozialen Klasse zu entkommen. Heute ist sie eine 55-jährige Frau mit einem dicken nordfranzösischen Akzent, ihr Köper ist in keiner guten Verfassung. Der einzige Job, den die Gesellschaft ihr zu geben bereit ist, ist als Reinigungskraft oder Kassiererin. Sie hat also eine andere Metamorphose durchlebt als ich. Aber letztlich fanden wir beide einen Weg, uns zu emanzipieren. Und so wurden aus den Verlierern meiner Kindheit Gewinner.
In all Ihren Büchern taucht Ihre Familie auf, in Interviews offenbaren Sie viel Privates. Fühlt sich das nicht manchmal seltsam an?
Die Idee von Intimität ist mir fremd, ich kenne diese Grenzen nicht. Ausserdem ist das Private für mich immer politisch. Wenn nicht darüber gesprochen wird, werden wichtige Aspekte gesellschaftlich ausgeklammert. Insbesondere die LGBTQ-Bewegung hat die Grenzen zwischen Privatem und Politik aufgehoben. Natürlich gibt es auch Dinge, über die ich nicht spreche, nur die Familie zählt nicht zu dieser Kategorie.
Interessiert Sie die Meinung Ihrer Familie denn nicht?
Natürlich möchte ich niemandem wehtun. Aber ich wäre wie gelähmt, wenn ich beim Schreiben wüsste, dass ich jemanden verletze. Deshalb versuche ich, mir nicht zu viele Gedanken darüber zu machen, was meine Eltern denken könnten. Mir ist es wichtig, wahrheitsgemäss zu schreiben. Als ich «Das Ende von Eddy» veröffentlichte, fragte mich meine Mutter entrüstet, wieso ich offenbarte, dass wir arm seien. Sie war wütend, weil sie sich für ihre Armut schämte.
Für das neue Buch gab Ihre Mutter Ihnen die Erlaubnis, ihr Bild und ihren richtigen Namen zu verwenden. Hat sich Ihre Beziehung seit der Veröffentlichung verändert?
Heute sagt sie mir oft, wie glücklich sie ist. Das ist ein riesiger Unterschied zu der Frau, die ich aus meiner Kindheit kenne. Nachdem sie meinen Vater hinausgeworfen hatte, änderte sie ihren Namen, zog wie ich nach Paris und begann endlich, zu lächeln.
Gab es denn ein Happy End? Ist Ihre Mutter noch mit dem Mann zusammen, mit dem sie am Ende des Buches ihr Glück findet?
Gerade als ich das Manuskript meinem französischen Verleger gab, rief sie mich weinend an. Der Mann, den sie kennengelernt hatte, verhielt sich am Ende wie mein Vater: Er betrank sich und beleidigte sie. Heute lebt sie in der Nähe meiner grossen Schwester und von deren Kindern. Wir haben ein Haus mit einem kleinen Garten für sie gefunden. Es ist das erste Mal in ihrem Leben, dass meine Mutter alleine lebt.
Es war also eine zweite Befreiung für sie?
Ja, ich hatte sogar schon überlegt, der Taschenbuchausgabe ein Postskriptum hinzuzufügen. Mir ist aber wichtig zu betonen, dass dies nicht nur eine nette Anekdote ist, sondern durchaus politisch. Denn im Kern geht es darum, die Möglichkeit zu haben, sich aus einem gewalttätigen sozialen Umfeld befreien zu können.
Wie erklären Sie sich, dass sich viele Leser und Leserinnen mit Ihren persönlichen Geschichten identifizieren können?
Am Ende geht es in meinen Erzählungen immer um Gewalt als Geburtsrecht und wie man diese Gewalt aufheben kann. Damit können fast alle etwas anfangen, egal ob man nun homosexuell, jüdisch, arm oder schwarz ist. Ausserdem versuche ich stets, so präzise und wahrheitsgemäss wie möglich zu schreiben, damit die Menschen das Geschilderte nachvollziehen können.
Wird Ihre Familie in Ihrem nächsten Buch wieder vorkommen?
Teilweise vermutlich schon, ja. Ich arbeite zurzeit an einer Sammlung von Essays «gegen Literatur». Die traditionellen institutionalisierten Werkzeuge von Literatur – wie Dramaturgie und Charakterentwicklung – sind das falsche Mittel, um effizient über die Arbeiterklasse zu schreiben, Sentimentalität gibt ihr Leben nicht akkurat wieder. Frei nach Nietzsche muss Literatur mit einem Hammer zerschmettert werden, um andere Aspekte sichtbar zu machen.
Buch
Édouard Louis
Die Freiheit einer Frau
96 Seiten
(S. Fischer 2021)
Mit Wucht und Radikalität
Seit seinem autobiografischen Debütroman «Das Ende von Eddy» (2015), in dem er von seiner Kindheit und Flucht aus prekären Verhältnissen in der nordfranzösischen Provinz erzählt, gilt Édouard Louis als Star der internationalen Literaturszene. Im neuen Buch «Die Freiheit einer Frau» beschreibt er ebenso schonungslos wie liebevoll die Emanzipation seiner Mutter aus einer unglücklichen Ehe und einem beengten sozialen Umfeld. Indem er persönliche Erfahrungen aufzeigt, klagt er zugleich das politische System an, das sich seiner Meinung nach auf dem Rücken der Arbeiterklasse bereichert. Der Schreibstil ist deutlich zärtlicher als der analytische Ton der Vorgänger, büsst jedoch kaum an Wucht und Radikalität ein.