Sinkende Leserzahlen? Nicht bei den Schweizer Regiokrimis. Seit einigen Jahren erleben sie einen regelrechten Boom, stehen stets auf den Bestsellerlisten des Schweizer Buchhändler- und Verleger-Verbands. Ein Blick auf die aktuelle Liste (Stand: Woche 7) zeigt: Je dreimal sind sie in der Kategorie «Belletristik Hardcover» und «Belletristik Taschenbuch» vertreten. Christof Gassers neuster Solothurn-Krimi etwa steht auf Platz 2 weit vor den mit Literaturpreisen ausgezeichneten Büchern von Sibylle Berg und Sasa Stanisic.
Zweifellos, der fiktive Mord vor Ort kommt an bei der Leserschaft. Nichtsdestotrotz haben die Krimis, die unter anderem vom Lokalkolorit leben, einen zweifelhaften Ruf. Stereotype Figuren, klischeehafte Darstellungen oder hölzerne Dialoge werden ihnen nachgesagt. Viele Autoren sträuben sich denn auch gegen die Bezeichnung: «In der Regel wird das Label Regionalkrimi in Literaturkreisen abschätzig verwendet», sagt etwa Christof Gasser. «Aber schliesslich spielt sich jeder Krimi, besonders bezogen auf die kleinräumige Schweiz, in einer Region ab.» Und er verweist auf die in ländlichen Regionen spielenden Krimiklassiker von Friedrich Glauser und Friedrich Dürrenmatt. Was macht denn einen guten Lokalkrimi aus? «Die Eigenheiten, Menschen und Bräuche einer Region sind wichtig», sagt Gasser. «Aber ich will weder Folklore-Krimis schreiben, noch sollen daraus Reise- oder Kulturführer werden. In meinen Geschichten ist es mir wichtig, globale Themen aufzugreifen und diese regional in Solothurn zu verankern.»
Die Lektüre einiger neu erschienener Regiokrimis zeigt denn auch grosse Qualitätsunterschiede. Unausgereifte Figuren und Handlungsstränge mit haarsträubenden Auflösungen, stilistische Fauxpas und abgedroschene Metaphern kommen durchaus vor. Aber ebenso gibt es die spannenden «Pageturner» mit komplexen Handlungen, die über den Gartenzaun hinausblicken.
Mehr als nur Unterhaltungsromane
Zu den Entdeckungen gehört nebst Gassers «Solothurn tanzt mit dem Teufel» Sunil Manns «Der Schwur», in dem der Zürcher Autor eine ernstere Tonart anschlägt, als man es sich von seinen bisherigen Krimis gewohnt ist. Sein Roman spielt in Zürich und auf der Flüchtlingsroute zwischen Nigeria und dem Mittelmeer. Er breche bewusst mit den Regeln des Genres, sagt Mann. Die Geschichte rund um die junge Nigerianerin Faith will er «so detailgetreu und authentisch wie möglich» erzählen, auch als «Antwort auf die oft gehässig und polemisch geführte Flüchtlingsdiskussion».
Dem sogenannten Regiokrimi sind also kaum Grenzen gesetzt. Viele davon würden allerdings dem «Swissness»-Trend entsprechen, von dem auch SRF-Sendungen wie «Landfrauechuchi» oder die Musiker Gölä und Trauffer profitieren, ist Sunil Mann überzeugt. «Das hat mit Patriotismus zu tun, ich habe aber auch den Eindruck, dass sich in einer zunehmend komplizierten Welt viele Leute nach Überschaubarkeit sehnen, nach Orten, die sie kennen.» Und natürlich sorge das Verbrechen, das gleich um die Ecke geschieht, für eine wohlige Hühnerhaut – insbesondere wenn am Ende die Ordnung wiederhergestellt ist.
Eine Lanze für den Krimi bricht Pressesprecher Dominic Hettgen vom Kölner Emons Verlag, der nebst dem Gmeiner Verlag den grössten Umsatz mit Lokalkrimis macht. «Diese nur auf den Unterhaltungsroman zu reduzieren, geht völlig am Phänomen vorbei», sagt er. Die Krimis seien oft nahe an der gesellschaftlichen Realität. Und: Solide Recherche und sprachliches Niveau seien sehr wichtig.
Pro Jahr erscheinen bei Emons rund 150 Regiokrimis – 2019 stammten zwölf davon aus der Schweiz. Zu den Schweizer Bestseller-Garanten gehören Peter Beutler, Silvia Götschi, Christof Gasser und Philipp Gurt. Genaue Zahlen will Dominic Hettgen nicht nennen, aber von den 8,4 Millionen Euro Umsatz im Jahr 2018 gehen ein beträchtlicher Teil auf das Konto der Regiokrimis. Und der Umsatz mit dem Genre steigt kontinuierlich. «Auch wenn seit fast 20 Jahren sein Niedergang heraufbeschworen wird», so Hettgen.
Dass ein Regiokrimi durchaus politische Sprengkraft haben kann, zeigt Peter Beutler mit seinen Romanen, in denen er kontroverse Themen der jüngeren Geschichte und reale Verbrechen aufgreift. Nach seinem jüngsten Krimi «Der Bunker von Gstaad» erhielt der Autor Morddrohungen. Nicht zum ersten Mal, wie Dominic Hettgen bestätigt. «Der Autor war schon häufig Anfeindungen ausgesetzt. Das zeigt auch, dass er offenbar mit vielem richtig liegt: Getroffene Hunde bellen.»
Fazit: Lokalkrimis sorgen für einen Wiedererkennungseffekt und wohlige Schauer, wenn der Mord vor der eigenen Haustüre gelöst wird. Dagegen ist nichts einzuwenden, wenn die stilistische Sorgfalt nicht vergessen geht. Poesie sollte man nicht erwarten, aber wo sich Lokalkolorit mit fundierter Gesellschaftskritik mischt, wirds richtig spannend.
Vier neue Krimis aus vier Kantonen
Zürich
Sunil Manns «Der Schwur» geht über den typischen Lokalkrimi hinaus: Er verknüpft drei Handlungsstränge zu einem packenden und gesellschaftskritischen Roman. Ein albanischer Türsteher und eine italienische Flugbegleiterin sitzen unfreiwillig auf einem Koffer voller Kokain. Parallel dazu begleiten die Leser die 14-jährige Faith auf ihrer lebensgefährlichen Reise aus Nigeria Richtung Schweiz. Derweil will eine rechtspopulistische Zürcher Nationalrätin um jeden Preis zurück ins Rampenlicht. Geschickt führt Mann in seinem sorgfälltig recherchierten Krimi über Prostitution und Menschenhandel diese Stränge zusammen. Dabei berührt vor allem Faiths schonungslos dargestellte Geschichte. (bc)
5/5 Sterne
Lesungen
Do, 19.3., 20.00 Kosmos Zürich
Mi, 25.3., 19.30 Bibliothek Köniz BE
Fr, 27.3., 20.00 Bibliothek Turgi AG
Sunil Mann
Der Schwur
288 Seiten
(Grafit 2020)
Solothurn
In Christof Gassers «Solothurn tanzt mit dem Teufel» ermitteln der flirtfreudige Dominik Dornach, Leiter der Solothurner Kantonspolizei, und die taffe Staatsanwältin Angela Casagrande in ihrem vierten Fall. Während in Solothurns Gassen fasnächtliches Treiben herrscht, wird eine erdrosselte junge Frau gefunden. Die Spuren führen über die Landesgrenzen hinaus. Auch Dornachs Tochter, die für die Uno im Irak tätig ist, und ein vergangener Mord an einem serbischen Kriegsverbrecher spielen eine Rolle. Gasser packt viel in seinen spannenden Krimi: Prostitution, Terrorismus und Lokalkolorit. Die Stränge führt er schlüssig zusammen und lässt auch einen Schuss Humor nicht vermissen. (bc)
5/5 Sterne
Lesungen
Do, 19.3., 19.00 Bibliothek Root LU
Fr, 20.3., 20.00 Gemeindesaal Lüterkofen SO
Christof Gasser
Solothurn tanzt mit dem Teufel
352 Seiten
(Emons 2020)
Graubünden
Hinter dem Pseudonym Gian Maria Calonder verbirgt sich der im Münstertal lebende Autor Tim Krohn: Zum zweiten Mal lässt er seinen jungen und naiven Polizisten Massimo Capaul im Oberengadin ermitteln. Diesmal geht er dem Mord an zwei Tunnelbauern nach und lässt sich vom mysteriösen «Fräulein Nietzsche» bezirzen, die in einem Wohnwagen im Wald lebt. Krohn, der sich schon in anderen Büchern von Alpensagen inspirieren liess, mischt seinem Krimi eine Portion Mystik bei und wartet zudem mit Wissenswertem zur Albulastrecke auf. Wer leichte Kost für die Engadin-Ferien sucht, ist mit diesem Bestseller gut bedient, auch wenn die Auflösung nicht überzeugt. (bc)
3/5 Sterne
Gian Maria
Calonder
Endstation Engadin
208 Seiten
(Kampa 2019)
Obwalden
Die Innerschweizerin Silvia Götschi steht mit ihren Krimis ebenfalls regelmässig auf den Bestsellerlisten. In ihrem neusten Wurf «Engelberg» dreht sich alles um die Winnetou-Freilichtspiele. Einer der Hauptdarsteller wurde vor einem Jahr auf der Bühne erschossen – nun erhält seine Witwe seltsame Totem-Botschaften. Einmal mehr gehen der junge Jurist Max, seine computerversierte Freundin und Max’ gewitzte Mutter der mysteriösen Geschichte bis zur – leider etwas forcierten – Auflösung nach. Götschi packt Humor sowie einen Schuss Erotik und Lokalkritik in ihren unterhaltenden Krimi, bei dem man aber über stilistische Ungenauigkeiten hinwegsehen muss. (bc)
3/5 Sterne
Szenische Lesungen
Mi, 4.3., 19.30 Bibliothek Geroldswil ZH
Do, 19.3., 19.30 Talmuseum Engelberg OW
Silvia Götschi
Engelberg
336 Seiten
(Emons 2019)