Wie wird der Mensch zu dem, der er ist? Von den Prägungen aus der Kindheit und Jugend erzählt Alain Claude Sulzer in seinem neuen Buch. Er lässt die Leser an seinen Erinnerungen im baslerischen Riehen teilhaben, wo er mit zwei Brüdern aufgewachsen ist. Die Eltern hatten sich in der Nervenheilanstalt Münchenbuchsee kennengelernt – der Vater als Patient, die Mutter aus der Romandie als Krankenschwester. Mit der Ehe steht es nicht zum Besten: Gesprochen wird wenig, und die Mutter fühlte sich im steifen und unpraktischen Interieur des Avantgarde-Hauses der damals in Basel angesagten Architekten Rasser & Vadi stets unwohl. Der junge Alain Claude geht mit Vorliebe in die Ballettstunde und macht erste Entdeckungen im Theater und in der Literatur. Dem mit viel Eifer ausgeübten Katholizismus schwört er erst ab, als er nicht mehr hinter dem sechsten Gebot («Du sollst nicht Unkeuschheit treiben») stehen kann.
Der heute in Basel, Berlin und im Elsass lebende Schriftsteller fördert aus seinem Erinnerungsschatz viele persönliche Anekdoten zutage, liefert gleichzeitig aber auch ein Gesellschaftsbild der damaligen Zeit: Der Umgang mit unverheirateten Frauen oder Homosexuellen im ländlichen Riehen ist genauso ein Thema wie die wichtige Rolle, die das Radio Beromünster auch nach den Kriegsjahren innehatte. Und schliesslich lebt das Buch auch von den Reminiszenzen an SJW-Hefte, Silva-Punkte, Cola-Fröschli, Trudi-Gerster-Märchen und vielem mehr, das ins kollektive Gedächtnis eingegangen ist.
Schiffs-Lesung
So, 29.10., 16.30
Start: Theatersteg Bellevueplatz Zürich (im Rahmen von «Zürich liest»)
Schlagzeuger Fritz Hauser begleitet den Autor musikalisch
Buch
Alain Claude Sulzer
«Die Jugend ist ein fremdes Land»
224 Seiten
(Galiani 2017).
Zitate-Sammlung
Alain Claude Sulzers Erinnerungen im neuen Buch «Die Jugend ist ein fremdes Land»
Pfadfinder: «Nichts war mir, abgesehen vom Schwimmunterricht, verhasster als der Gedanke, mit einem idiotischen Spitznamen versehen zu werden, mich samstags mit anderen Jungs zum Appell zu treffen, an allerlei paramilitärischen Spielen teilzunehmen und – verschwitzt und dreckig – in einer braunen unförmigen Uniform herumzulaufen.»
Silva-Punkte: «Wir sammelten ausschliesslich Silva-Punkte so wie andere ausschliesslich bei ACV (heute: Coop, Anm. d. Red.) einkauften und ausschliesslich ACV- oder Liga-Rabattmarken sammelten und einklebten. Auch sie sind längst aus der Mode gekommen.»
Willisauer Ringli: «Sie waren ein immerwährendes Versprechen und eine verlässliche Enttäuschung. (. . .) Was für ein gottverlassener Fleck auf dieser Erde musste dieses Willisau sein, wo man es sich einfallen liess, ein so unansehnliches und geschmackloses Gebäck herzustellen?»
Fernseher: «Einen Fernseher zu besitzen, war lange Zeit unserer Grossmutter vorbehalten, was ihr, wenn auch nicht die Zuneigung, so doch die regelmässige Gegenwart ihrer Enkel sicherte. Wir besuchten nicht sie, sondern den dunklen Kasten mit dem grünlichen Bildschirm, auf dem sich uns die Welt eröffnete: ein Philips.»
SJW-Hefte: «Hätte jemand korrekterweise EsJottWe gesagt, hätte kaum jemand verstanden, was gemeint war. SJW war die Abkürzung für Schweizerisches Jugendschriftenwerk. Doch Jugendschriftenwerk klang nach Bedürftigkeit, nach Waisenhaus und Blindenheim. SIW hingegen war ein Code, hinter dem sich die geballte Macht des Wissens verbarg (...).»
Unverheiratete Frauen (in den Augen der Mutter): «Emanzipiert und rücksichtslos lebten sie in ihren Ein- und Zweizimmerwohnungen, schliefen mit verheirateten Männern und mokierten sich über ihre verheirateten Geschlechtsgenossinnen.»
Max Frisch: «Obwohl mein Vater ihn verehrte, war der Name Max Frisch bei uns zu Hause tabu. Irgendetwas oder irgendjemand hatte ihn in den Augen meiner Mutter suspekt gemacht.»