Solothurner Literaturtage, 2018. Ich trete ans Mikrofon: «Eine Frau aus Ferizaj sagt zu ihrem Mann: ‹Ich schwöre bei der Regierung, dass ich dich liebe›.» Gelächter der kosovarischen Diaspora im Zuschauerraum. Hundert Augenpaare blicken Richtung Bühne. Mein Körper wippt im Takt des Schlagzeugs, buff tschak tschak, und des Kontrabasses. Spucke klebt am Mikrofonkorb, ich schwitze, denke an meine Reise in den Kosovo, an die erfundene Frau aus Ferizaj und daran, im Moment des Erzählens nichts und niemand sein zu müssen.
Klein und mehrsprachig wie die Schweiz
Ich lese den für das Projekt «Kosovë is everywhere» entstandenen Text «Europa oder Quod licet Iovi, non licet bovi». Mit mir auf der Bühne sind Mitglieder der zwölfköpfigen Gruppe «Bern ist überall», kosovarische Dichterinnen und Musiker. Nach Auftritten in sieben kosovarischen Städten sind wir auf Tournee in der Schweiz.
«Bern ist überall» schreibt und performt im Dialekt, auf Hochdeutsch, Französisch, Englisch und Italienisch. Unser Manifest: «Überall ist unsere Sprache, die uns nicht gehört. Wir haben sie uns angeeignet, um durch sie zugehörig zu werden. Es gibt keine eigenen und fremden Sprachen. Alle Sprachen sind Fremdsprachen.» 2015 erhielten wir den Kulturpreis der Burgergemeinde Bern und beschlossen, das Geld in ein künstlerisches Projekt im Kosovo zu investieren.
Warum der Kosovo? Weil das Land wie unseres klein und mehrsprachig ist? Wegen der Liebe der Bewohner zu ihren Bergen und Schusswaffen? Oder weil Albanisch in der Schweiz inoffizielle fünfte Landessprache ist? Fast ein Drittel der kosovarischen Diaspora lebt in der Schweiz. Nach Jahren der serbischen Repression gegen die im Kosovo lebenden Albaner, nach einem zweijährigen Krieg, nach Massakern und Deportationen durch Miloševićs Truppen, floh Ende der 1990er-Jahre fast die Hälfte der albanischen Bevölkerung. 1999 intervenierte die Nato. Wer noch da war, feierte die einmarschierenden Truppen als Befreier und hiess die nachrückende Uno-Mission willkommen. Viele Migranten sind nach dem Krieg in der Schweiz geblieben, andere heimgekehrt.
Polizeischutz für Dichterlesung
«Im Land vo de Cousin het jeden e Cousin, wo Bärndütsch versteit», heisst es im Text von Guy Krneta. Die Bande zwischen den Ländern sind zahlreich. Im Flieger von Kloten nach Pristina sitzt man umringt von gut gelaunten, zu ihren Verwandten reisenden «Schatzis», wie die in Westeuropa lebenden Kosovaren von den Daheimgebliebenen genannt werden. Sie alle schicken jeweils Geld nach Hause. Im Land mit der jüngsten Bevölkerung Europas sind mehr als die Hälfte der unter 25-Jährigen ohne Arbeit. Touristen sieht man im Flieger kaum. Der isolierte Kosovo ist kein Ferienziel: zu arm, zu korrupt, zu instabil.
Applaus. Ich setze mich auf einen Stuhl im Hintergrund. Schweissperlen tropfen auf die Bühne. Laurence Bossier stellt sich ans Mikrofon und fragt ironisch: «Hey Kosov / I’ll be with you tomorrow / The plane takes off at noon (…) Got any good hotels? Casinos? / Sandy beaches? Burritos? (…) Safari? / Hey Kosov / You speak any English? / Kosovarian? Kosovonian? / Kosovonish?»
Offizielle Landessprachen im Kosovo sind Albanisch und Serbisch, in einigen Gemeinden wird auch Türkisch, Bosnisch und Romani gesprochen, doch seit Ende des Krieges dominiert Albanisch. Wir suchten für die Zusammenarbeit nach einem im Kosovo lebenden serbischen Autor, wurden aber nicht fündig. Viele Serben sind nach dem Krieg von der albanischen Bevölkerung vertrieben, einige getötet worden. So haben wir den serbischen Dichter Miloš Živanović aus Belgrad eingeladen. Auf unsere Tournee liest er ein Gedicht, das er während des Kriegs für seinen albanischen Übersetzer geschrieben hat: «Ich stelle mir vor: Du in einer Kneipe, leicht angetrunken, / wie du eine Vielzahl von Sprachen, Mundarten, Gegenden rezitierst. / Und lachst. / Denkst du über die Revolution nach, / wenigstens im Suff? / Über die Solidarität, die Republik? / Die Zukunft? / Die Zukunft für all die Übersetzungen, die du im Schrank aufbewahrst?»
Als wir mit Miloš in Gjakova auftreten wollten, wurde uns von kosovarischer Seite mitgeteilt, dass wir dafür Polizeischutz benötigen würden. Seit 20 Jahren wurde dort öffentlich kein Serbisch mehr gesprochen. Umgeben von einer Gebirgskette, war die Stadt unter Tito ein industrielles Zentrum, während des Kriegs Hochburg der albanischen Widerstandsbewegung UÇK und somit Stachel im Fleisch des Milošević-Regimes.
Vom Flüchtling zum gefeierten Dramatiker
Die serbischen Truppen gingen in Gjakova besonders grausam vor. Grosse Teile der Stadt wurden zerstört. Tausende Witwen leben heute dort. Wir beschlossen, mit Miloš stattdessen in anderen Städten aufzutreten. Denn nicht Schweizer sollen bestimmen, wann Gjakovas Wunden verheilt sind und die Zeit wieder reif ist für serbische Gedichte.
Jetzt steht Jeton Neziraj am Mikrofon. Im Bürgerkrieg war er Propagandaschreiber der UÇK. Damals fürchtete er, in den umkämpften Wäldern auf seinen ehemaligen serbischen Lehrer zu stossen, den er mochte. Die Überzeugung, dass er nicht auf seinen Lehrer schiessen würde, und dieser nicht auf ihn, gab ihm Zuversicht für eine mögliche Zukunft. Mit 20 war Jeton geduldeter Flüchtling in Deutschland und arbeitet als Fliesenleger. Heute ist er ein international gefeierter kosovarischer Dramatiker. Mit seinen Theaterstücken stösst er die Nationalisten im Kosovo gleichermassen vor den Kopf wie deren serbische Gegner.
Erinnerungen an eine unfertige Stadt
Ich erhebe mich vom Stuhl und gehe zum Bühnenrand, denke an Pristina, diese Stadt, die mein Kollege Gerhard Meister liebevoll eine «hingeworfene Behauptung» nannte. Ich erinnere mich an das wettergegerbte Gesicht des Roma-Dichters Kujtim Paçaku, der mich durch die Strassen führte, an verwinkelte Gässchen, unfertige Wolkenkratzer und Balkone ohne Bewilligung. An den Balustraden des Swiss Diamond Hotels, das dem schweizerisch-kosovarischen Doppelbürger und Aussenminister Kosovos gehört, blühen Petunien in den Schweizer Landesfarben. «I think about the country’s Landesnarben», sage ich ins Mikrofon, «and my own scars.» Neben mir steht die Dichterin Blerina Gaxha-Rogova. Gleich wird sie mir mit einem Text antworten. Ich höre ihren Atem. Buff tschak. Autor Kujtim ist in diesen Tagen gestorben. Wir trauern um ihn und schreiben weiter, gemeinsam und überall.
Auftritte
CD
Bern ist überall
Kosovë is everywhere
75 Minuten
(Der gesunde Menschenversand 2018)