Welche Stadt ist wohl gemeint mit diesen Worten? «Es leuchteten so viele Lichter in diesem lebendigen Häuserchaos, so viele Kerzen, so viele Laternen, so viele Sterne aus den Fenstern …» Der Autor dieser Zeilen, der französische Schriftsteller Victor Hugo, wähnt sich angesichts dieses Lichtermeers in einer chinesischen Stadt. In Wahrheit ist er in Bern angekommen.
Der Genfer Autor Daniel de Roulet erinnert an diese Episode in seinem neuen Buch «Durch die Schweiz – Wanderungen durch ein Land und seine Erzählungen». 29 Etappen illustriert er mit kulturellen Texten aller Art, kreuz und quer, von Genf nach Rorschach, von Porrentruy nach Chiasso.
Eine Architekturperle im Bernbiet
Der 78-jährige de Roulet hat zahlreiche Romane geschrieben, zuletzt «Staatsräson» über den linken Terrorismus in den späten Siebzigern. Er gilt in Frankreich als wichtigster Schweizer Schriftsteller. Vielen aber ist er vor allem in Erinnerung geblieben, weil er sich im Jahr 2006 zu einem bis dahin ungeklärten Brandanschlag auf das Chalet des deutschen Verlegers Axel Springer bekannte. Er hielt ihn fälschlicherweise für einen Nazi.
Die spannendsten Texte drehen sich um Überraschendes: So steht de Roulet vor der imposanten Schwandbachbrücke im bernischen Hinterfultigen und ist beeindruckt. Das elegante Bauwerk stammt vom weitgehend vergessenen Architekten Robert Maillart (1872–1940): «Er liebte den Stahlbeton, der neue Formen ermöglichte: Bogenbrücken, dünne, kastenförmige Fahrbahnkonstruktionen.» Ein anderes seiner Bauwerke überquert das Flüsschen Arve bei Genf. Einen Besuch lohnt auch Maillarts spektakuläre Salginatobelbrücke oberhalb von Schiers im Prättigau.
De Roulet sucht auf seinen Wanderungen nach verbreiteten Vorstellungen, um sie als Klischees zu entlarven: Etwa die Annahme, dass der Schriftsteller Robert Walser in der Psychiatrie von Herisau gelitten habe. In seiner Einsamkeit seien ihm die Wanderungen im Appenzell Erfüllung gewesen: «Um sich dieses Privileg zu sichern, legt er seine Existenz in die Hände eines nicht allzu strengen Hauses, das ihm ein Bett, Mahlzeiten und die Ruhe gewährt, die er als Wanderer braucht.» Wenn schon Psychiatrie, dann wenigstens eine tolerable.
Was Lenin ins Entlebuch trieb
Im Vergleich dazu enttäuschen einzelne Texte von de Roulet, weil ihm zu wenig einfällt: Wenn er durch das Zugerland spaziert, kommen ihm nur Steuern und Kirsch in den Sinn. Bei etwas genauerem Hingucken wäre ihm in dieser spannenden Ecke der Schweiz bestimmt Aussergewöhnlicheres aufgefallen.
Der Autor scheut dafür erfreulicherweise den Klatsch nicht. So erzählt er genüsslich vom russischen Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin, der im Entlebucher Dorf Flühli seine Geliebte Inessa Armand getroffen hatte. In einem Brief mahnt er die Grossbürgerliche an, ihn in dieser abgelegenen Ecke der Welt zu besuchen. Inessa war laut de Roulet hingerissen von Lenin: «Ich wäre bereit, dich nicht zu küssen, wenn ich dich nur sehen könnte» – das Paradox einer Liebeserklärung. So weit lässt sich der erzählerische Bogen schlagen: vom Entlebuch zu den Verwerfungen der Weltgeschichte. Episoden wie diese machen dieses literarische Wanderbuch zu einem kleinen Erlebnis.
Buch
Daniel de Roulet
Durch die Schweiz – Wanderungen durch ein Land und seine Erzählungen
200 Seiten
(Limmat 2022)