Im ersten Teil dieser Anthologie sind Tagebuch-Auszüge, Briefe und Bilder versammelt. Der zweite beschreibt – inklusive Wanderkarten und ÖV-Hinweisen – Goethes Wanderrouten, die auf den Gotthard oder den Jura führten sowie nach Zürich und Basel. Wohl dokumentiert ist Goethes einmonatiger Aufenthalt vom Frühherbst 1797 in der Gemeinde Stäfa am Zürichsee, wo er sich bei seinem Freund Johann Heinrich Meyer aufhielt.
Der «Herr Geheime Rat von Goethe», wie der Dichterfürst damals hiess, nutzte die Zeit für ausgedehnte Spaziergänge durch die Rebhänge. Dabei dürfte ihn eine junge Dorfschönheit begleitet haben, mit der er angeblich ein Techtelmechtel hatte. Vor allem aber liess er sich von seinem Freund Meyer, dem «Kunschtmeyer», in die Geheimnisse der italienischen Kunstgeschichte einweihen.
Die Zeitreise beginnt am Schiffsteg von Stäfa
Erste Goethegefühle sucht man auf der leichten Wanderung am besten am Schiffsteg von Stäfa, wo der Dichter einst, von Horgen herkommend, anlegte. Er war auf der Rückreise vom Gotthard und wollte vor dem Winter in Weimar ankommen. Da reichte es noch für eine Auszeit in Stäfa, wie man heute sagen würde. Der Schiffsteg ist heute weniger einladend als damals. Man findet einen etwas verstellten Verpflegungsort, wo sich Einheimische und Ausflügler in zwei Boulevardbeizen gütlich tun.
Daneben steht das pompöse «Patriotendenkmal», das an die liberale Landbevölkerung von Stäfa erinnert, die den konservativen Stadtzürchern einst Saures gab. Das war zwar vor Goethes Zeit, aber der Anblick der Skulptur wird ihm erspart geblieben sein, weil sie erst später entstanden ist. Der Weg führte Goethe nach seiner Ankunft das Dorf hinauf zur «Alten Krone», dem traditionellen Gasthaus, das die Familie Meyer führte.
Die Liegenschaft hat zwischen einem Verkehrskreisel und einem Einkaufszentrum den Unbilden der Zeit standgehalten, Goethe hätte sie wohl kaum mehr gefunden. Von der «Krone» geht der Spaziergang hinauf zum Ortsmuseum, wo eine alte Wasserpumpe wohl schon 200 Jahre lang vor sich hin rostet.
Blick auf den See und romantische Gefühle
Aber nicht ihretwegen ist Goethe jeweils dorthin gepilgert. Auch nicht der Familie Pfenninger wegen, die in den Stäfner Unruhen eine prominente Rolle spielte. Vielmehr lockte ihn Anna Magdalena Pfenninger im Teenageralter, mit der er sich schnell anfreundete. Wie tief die Liebe ging, sei dahingestellt. Jedenfalls hinderte sie ihn nicht, seiner Ehefrau Christiane Vulpius in Briefen seine Verbundenheit aus der Ferne zu versichern.
Beim Ortsmuseum ist bereits der erste Teil des Aufstiegs auf den Hügelzug über dem See bewältigt. Nun führt der Weg durch Villen und kleine Bücher Rebberge, die sich abwechseln. Der städtebauliche Begriff «durchmischtes Wohnen» hat hier eine ganz spezielle Bedeutung. Ist man auf der Anhöhe angekommen, beginnt die Landwirtschaftszone mit Mais und Sonnenblumenfeldern.
Bei einem nahen Bauernhof grast das Rindvieh noch heute wie zu Goethes Zeiten. Im Gegensatz zu diesem ist den Kühen der Ausblick über den Zürichsee hinüber zur Albiskette indes einerlei, der Meister aber wird in romantischen Gefühlen geschwelgt haben. Wie er durch diese Felder spazierte, wird er zu einem Rastplatz mit einem Wasserfall gekommen sein.
Dort hat Goethe vielleicht einst seine Galoschen ausgezogen, die Wanderkluft abgelegt und ist im Dichterhemd unter das Wasser gestanden. Das steht zwar nirgends geschrieben, muss sich aber genau so zugetragen haben.
Der Grübler unter den Wandervögeln
Der Schweizer Schriftsteller Robert Walser (1878–1956) war wie einst Goethe ein emsiger Wanderer. Im soeben erschienenen Sammelband «Spazieren muss ich unbedingt» des Robert-Walser-Zentrums in Bern sind fast 50 Texte versammelt, die Walser zum Thema geschrieben hat. Seine Inspiration hat der Dichter offenkundig zu Fuss gefunden. Der in Biel geborene Walser ist neben seinen Essays heute besonders dank seinem Roman «Der Gehülfe» in Erinnerung geblieben.
Das Schreiben brachte ihm indes wenig Glück, obgleich er die Anerkennung literarischer Zeitgenossen wie Walter Benjamin genossen hatte. Der Autodidakt lebte in Armut und litt unter psychischen Krankheiten, verbrachte später sein Leben in Kliniken. Walser beherrschte die anspruchsvolle Kunst, über das Wandern zu schreiben. Wichtiger als das Fortbewegen ist ja das drumherum.
So verstand es der Poet, auf seinen ausgedehnten Spaziergängen ein Panoptikum der gesellschaftlichen Verhältnisse zu zeichnen – etwa indem er die soziale Bedeutung des Gehens erkannte, wie er in seinem Aufsatz «Der Ausflug» 1914 schrieb: «Gravitätisch und ernsthaft schritt ich vorwärts wie einer, der einen wichtigen Gang zu machen hat, etwa ein sanfter, gesetzter Steuereinnehmer oder fast wie ein Notar...» Man kann sich bis heute den gedankenverlorenen Walser vorstellen, wie er über eine staubige Landstrasse schreitet – und überzeugend den schicken Bürger mimt.
Goethes Schweizer Reisen
Band I und Band II
Hg. Margrit Wyder, Barbara Naumann, Robert Steiger
431 Seiten und 191 Seiten
(Schwabe 2023)
Poetische Wanderinspirationen
- In der Geschichtensammlung «Rheinaufwärts» (Luchterhand 2023) erzählt Franz Hohler von seinen Wanderungen am Rhein – vom Rheinfall bis zur Quelle am Tomasee.
- Daniel de Roulet ist für sein Buch «Durch die Schweiz» (Limmat 2022) von Genf nach Rorschach und von Porrentruy nach Chiasso gewandert. Auf jeder seiner 29 Etappen hatte er das passende Buch dabei, von Annemarie Schwarzenbach, Jean-Jacques Rousseau, Agota Kristóf und vielen mehr.
- Mit dem Buch «Die Schweiz in Tolkiens Mittelerde» (Nova MD 2021) von Martin S. Monsch kann man auf den Spuren von J. R. R. Tolkien wandeln, der 1911 als 19-Jähriger das Berner Oberland und Wallis entdeckte und sich dort für seine «Herr der Ringe»-Welt inspirieren liess.
- Das Buch «Auf den Spuren der Literatur» (Werd 2021) von Ursula Kohler und Katinka Ruffieux Szöke versammelt poetische Wanderungen in und um Zürich vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart – von James Joyce über Thomas Mann bis Ruth Schweikert.
- In «Sonnenlüfte atmen» (Rotpunkt 2017) stellen Christa und Emil Zopfi 15 literarische Wanderungen in der Ostschweiz vor und begeben sich etwa auf die Wege von Hermann Hesse auf den Gäbris oder Peter Weber zu den Thurfällen.
Der Grübler unter den Wandervögeln
Der Schweizer Schriftsteller Robert Walser (1878–1956) war wie einst Goethe ein emsiger Wanderer. Im soeben erschienenen Sammelband «Spazieren muss ich unbedingt» des Robert-Walser-Zentrums in Bern sind fast 50 Texte versammelt, die Walser zum Thema geschrieben hat.
Seine Inspiration hat der Dichter offenkundig zu Fuss gefunden. Der in Biel geborene Walser ist neben seinen Essays heute besonders dank seinem Roman «Der Gehülfe» in Erinnerung geblieben. Das Schreiben brachte ihm indes wenig Glück, obgleich er die Anerkennung literarischer Zeitgenossen wie Walter Benjamin genossen hatte. Der Autodidakt lebte in Armut und litt unter psychischen Krankheiten, verbrachte später sein Leben in Kliniken.
Walser beherrschte die anspruchsvolle Kunst, über das Wandern zu schreiben. Wichtiger als das Fortbewegen ist ja das drumherum. So verstand es der Poet, auf seinen ausgedehnten Spaziergängen ein Panoptikum der gesellschaftlichen Verhältnisse zu zeichnen – etwa indem er die soziale Bedeutung des Gehens erkannte, wie er in seinem Aufsatz «Der Ausflug» 1914 schrieb: «Gravitätisch und ernsthaft schritt ich vorwärts wie einer, der einen wichtigen Gang zu machen hat, etwa ein sanfter, gesetzter Steuereinnehmer oder fast wie ein Notar…»
Man kann sich bis heute den gedankenverlorenen Walser vorstellen, wie er über eine staubige Landstrasse schreitet – und überzeugend den schicken Bürger mimt.
Robert Walser
«Spazieren muss ich unbedingt» – Vom Gehen über Stadt und Land
Hg. Reto Sorg
174 Seiten
(Insel 2024)