Der vielfach nachgeplapperte Satz aus Lise de la Salles Biografie – «Wenige Tage vor den letzten Schulprüfungen spielte sie in Lissabon ihre dritte CD ein» – findet in dieser halben Stunde im Künstlerzimmer des Berner Casinos eine Erklärung. Im Gespräch zeigt sich auf dem kindlichen Gesicht der 23-Jährigen eine konzentrierte Gelassenheit, ihre rasch gesprochenen Worte sind klug und überzeugen. Gefühl, Ironie und Intellekt sind bei de la Salle, die dank ihrer Familie früh mit Malerei und Musik in Berührung kam und ab dem elften Lebensjahr am Pariser Konservatorium studierte, eins geworden. Bei 70-jährigen Geigern erwartet man das eher als bei einer 23-jährigen Pianistin.
Immer unterwegs
Sie haucht ein «Ach», als sie darauf angesprochen wird, dass sie zurzeit von einer Stadt in die andere, von einem Werk zum anderen hüpfe: Heute Prokofjew und Rachmaninow, nächste Woche Ravel, ein Tag später Mozart. Mit einem fast entschuldigenden Lächeln entgegnet sie: «Momentan ist es etwas extrem. Und ehrlich gesagt: Es gefällt mir, von einem Konzert, von einem Universum ins andere zu wechseln.» Nachdenklicher wird sie, wenn sie daran erinnert wird, dass sie in sieben Tagen dreimal das Orchester und dreimal den Dirigenten wechseln wird: «Es wird vor allem dann schwierig, wenn man von einem guten zu einem schlechteren Orchester wechseln muss.» Sie lächelt vielsagend und schwärmt, wie herrlich es sei, mit einem guten, einem «admirable orchestre» zu spielen. «Da fühle ich mich getragen und frei wie ein Vogel. Bei weniger guten bin ich kontrollierter.»
Rund 65 Auftritte sind seit drei Jahren ihr Jahressoll. Fast verteidigend sagt sie, dass 65 Auftritte nicht wenig seien. «Hinzu kommen ja die Reiserei und die Proben. Kollegen, die 120 Konzerte geben, sind nur mehr in den Fliegern, Hotels und Konzertsälen, und selten mal drei Tage pro Monat zu Hause. Das will ich nicht, ich möchte auch ein Leben neben der Kunst aufbauen.»
Komplizenschaft
Die Französin kommt zurzeit oft als Debütantin in die Musikmetropolen. Überall hat sie sich zu beweisen, laut zu sagen: «Das bin ich!» Am kommenden Pianofestival in Luzern spielt Hélène Grimaud 12 Stunden vor ihr, am Tag darauf Legende Maurizio Pollini. Darauf geht sie nicht ein, sondern sagt rasch und überzeugt: «Ich bin hier, um an einem Austausch teilzunehmen, eine Reise mit dem Publikum mitzumachen. Das ist viel eher eine Komplizenschaft als ein Egotrip, der zeigen soll, wer ich bin.»
Mit Khatia Buniatishvili und Yuja Wang spielen noch zwei Jungstars in Luzern. An ihnen hat unsere Französin wenig Interesse. «Ich höre keine Pianisten – oder nur sehr selten. Ein Abend bei meinen Kammermusikfreunden ist für mich verlockender als ein Klavierrezital einer Kollegin, da erlebe ich etwas anders, etwas Neues.»
De la Salle lebt in einem eigenen Kosmos, der es ihr erlaubt, sich im einengenden Musikmarkt frei zu fühlen. «Ich habe das Glück, von wunderbaren Leuten umgeben zu sein. Meine Agentur und meine Familie versuchen, mich zu schützen – und ich lasse mich schützen. Ich stehe überhaupt nicht unter Druck.»
Beschäftigt sie sich doch mit anderen Pianisten, dann mit toten. Ihre Vorbilder sind Vladimir Horowitz, Svjatoslav Richter, Glenn Gould und Friedrich Gulda. Dass sie diese Legenden nur vom CD-Hören kennt, ist ihr egal.
Das eigene Abbild
Keck behauptet sie, dass jemand, der sie selber nur über CDs kennenlernte, ein gutes Bild von ihr habe. «Ich glaube ganz fest, dass man so ist, wie man auf CD spielt. Die Musik, die wir schaffen, gleicht uns. Man zeigt damit seine Emotionen, seine Vorlieben und sein Leben.»
Den Nachhakenden befriedigend, fügt sie an: «Wenn ich allerdings zwischen Konzert und CD wählen müsste, wäre meine Wahl klar das Konzert, denn das Konzert ist einzigartig. Es ist das Abbild eines Moments. Ein paar Tage später denke ich ein Werk vielleicht schon wieder anders, da ich neue, andere Inspirationen habe. Gehe ich hingegen ins Studio, muss ich eine definitive Idee haben, das ist sehr reizvoll.» Sagts, lächelt weniger sanft als vielmehr konzentriert und meint damit wohl: «Ich muss jetzt wieder üben.»
Kurz nach dem Gespräch steht in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung»: «Achtung, zuhören: Die Pianistin Lise de la Salle hat etwas zu sagen.» Sie sei kein Sternschnüppchen. In der Tat: Lise de la Salle ist ein Stern, geerdet wie ein Stein.
[CD]
Liszt (Naïve 2011).
Chopin: Klavierkonzert Nr. 2/Balladen
(Naïve 2010).
Mozart/Prokofjew
(Naïve 2007).
Bach/Liszt (Naïve 2005).
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