Der Radioapparat springt an, da öffnet der verstorbene Vater (Hansrudolf Twerenbold) plötzlich die Augen, und der Sohn (Michael Neuenschwander) staunt Bauklötze. Wenig später wundert sich ein Elektriker (Ole Eisfeld) in seinem Reparaturgeschäft über eine Glühbirne, die ohne Strom zufuhr strahlt: «Das sollte eigentlich gar nicht leuchten.»
Ja, in «Electric Fields», dem Spielfilmdebüt von Lisa Gertsch, tragen sich merkwürdige Dinge zu – und das kommt hervorragend an. Jedenfalls wurde der sechs Episoden umfassende Film am Max-Ophüls-Festival in Saarbrücken im Januar gleich mit drei Preisen ausgezeichnet, darunter für den besten Film. Zuvor hatte Gertsch bereits 2018 den Studenten-Oscar für ihren Kurzfilm «Fast alles» gewonnen.
Wir treffen die Regisseurin im «Chez Toni», dem Bistro für Absolventen der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Hier hat Lisa Gertsch 2023 ihren Master gemacht, nach einigen Jahren als Tutorin konnte sie im selben Jahr das «Atelier Drehbuch» Seminar als Dozentin übernehmen.
«Im Gegensatz zu anderen Projekten mit fester Struktur, die nicht zustande kamen, hatte ich bei ‹Electric Fields› das Be dürfnis, komplett offen zu arbeiten», sagt die gebürtige Bernerin. Sie wollte eine Geschichte erzählen, «bei der ich niemandem erklären muss, warum gewisse Dinge passieren».
Wie ein menschliches Versuchslabor
Tatsächlich kann man sich Gertschs Film wie ein menschliches Versuchslabor vorstellen, wobei die Entstehungsgeschichte der Erzählung ähnelt, da die aufeinander aufbauenden Episoden erst nach und nach entstanden. Eineinhalb Jahre habe sie darauf verwendet. «Manchmal fiel mir erst beim Schnitt auf, wie die Verbindungen funktionieren.» Zum Beispiel, wenn nun fast in jeder Episode Vögel auftauchen. Oder wenn eine Human-Resources-Managerin (Julia Jentsch) unvermittelt zu pfeifen beginnt, bevor sie sich aus dem Fenster stürzt.
«Als eine meiner Schauspielerinnen den Film zum ersten Mal sah, meinte sie, es fühle sich an, als würde ein Wesen von aussen auf unsere Erde schauen und uns Menschen bei unserem Treiben beobachten.» Dieser Effekt entstand wohl auch durch Gertschs intuitive Entscheidung, den Film in Schwarz-Weiss und mit statischer Kamera zu drehen. «Das verleiht dem Film etwas Entrücktes. Die Figuren kommen und gehen, ohne dass wir die Möglichkeit haben, Teil des Geschehens zu werden.»
Nicht zuletzt deshalb wurde «Electric Fields» schon mit Werken des schwedischen Ausnahmeregisseurs Roy Andersson («Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach») verglichen. Auch dort ist Beobachtung alles, Rationalität nebensächlich. Oder wie Gertsch es augenzwinkernd formuliert: «Vielleicht haben in meinem Film alle ein bisschen einen Vogel.»
Electric Fields
Regie: Lisa Gertsch, CH 2024
80 Minuten, ab Do, 20.6., im Kino
Lisa Gertschs Kulturtipps
Film
Jonathan Glazer
The Zone of Interest
«Ein auch hinsichtlich des wieder erstarkenden Antisemitismus sehr aktuelles Meisterwerk, das man auf der grossen Leinwand sehen und hören sollte, solange der Film noch im Kino läuft.»
Theater
Gier
«Ein Stück von Sarah Kane, inszeniert von Christopher Rüping. Ich bin selbst sehr gespannt und freue mich auf eine tolle Besetzung.»
Fr, 7.6., 19.30 (letzte Vorstellung)
Schauspielhaus Zürich
Konzerte
The National und PJ Harvey
«Das sind Künstlerinnen und Künstler, die mich schon lange begleiten. Am Montreux Jazz Festival finden beide Konzerte am gleichen Tag auf der neuen Bühne Scène du Lac statt.»
Di, 9.7., 20.00
Montreux Jazz Festival VD