Ich bin im falschen Film. Bei mir läuft nie der Richtige. Liegt es an mir, dass ich immer ins Falsche sitze, sozusagen ins Fettnäpfchen?
Darüber gibt es zwar viele gute Filme, aber es sind trotzdem die falschen für mich. Ich sitze dann im Stuhl und klaube ein Taschentuch aus der Tasche, wie die andern um mich herum ihr Popcorn aus dem Sack klauben, und flenne still vor mich hin, während bei den andern das Popcorn zwischen den Zähnen kreischt. Bei mir geht es aus mir hinaus, und bei ihnen geht es in sie hinein. Wie kann man nur flennen im Kino! Aber wie kann man nur Popcorn essen, während auf der Leinwand die Menschen am Hunger verrecken. Man kann eigentlich sagen, alle sitzen immer im falschen Film. Richtig wäre, die Flenner und die Fresser zu trennen. Den Flennern den Film «Melancholia» zeigen und den Fressern «La Grand Bouffe». Oder umgekehrt! Meine Melancholie verginge vermutlich im Film «La Grande Bouffe», die Fresser würden mit grösster Wahrscheinlichkeit melancholisch in der «Melancholia».
Ich setze mich ins Kino, wenn draussen das Leben, der Film Leben, der ja ein Dokumentarfilm ist, unaushaltbar wird. Ich gehe dann flennend ins Kino hinein und komme lachend heraus, wühle mich durch johlende Erdbewohner und denke, dass ich vom richtigen Film gleich wieder in den falschen gerate. Dann sehne ich mich nach der Ouvertüre von «Tristan und Isolde», sehne mich nach dem letzten Bild auf der Leinwand, wo der verschlingende Planet immer grösser und grösser wird und auf die Zuschauer zurast. Man hält den Atem an, wird im Kinosessel nach hinten gedrückt, so tief eben, wie das möglich ist in diesen harten Sesseln, Popcorn fliegt herum, dann ist es still, das Licht geht an und alle sind noch da und staunen nicht, dass sie noch da sind, weil sie mit der Filmhandlung gar nicht mitgegangen sind, sondern bloss ihrer Popcornkultur im Dunkeln frönten.
Neulich legte mir im Kino der Nebenansitzer in der Dunkelheit seine Hand auf mein Knie. In einem netten, fröhlichen und angstfreien Film, wo ich gerne ein bisschen das Lachen geübt hätte, legt mir einer die Hand da hin, wo ich doch mein anderes Knie schon liegen hatte, und ich glaubte zuerst an eine Zufälligkeit, aber die wurde so schwer und neugierig, dass mir der Glaube an eine streifende Verirrung verging, und ich darauf hoffte, dass nun zwischen uns so etwas wie ein Stummfilm laufen könnte, oder eine stille Vereinbarung, ein ganz und gar waffenloses Übereinkommen, und während auf der Leinwand die Julia Roberts ihren Orgasmus mimte, nahm ich seine Hand und legte sie ihm auf sein eigenes Knie zurück, was er offensichtlich als möglichen, erweiternden Handlungsverlauf verstand, denn er legte sofort seine zweite Hand auf meine. Ich war mitten drin, gefangen zwischen zwei warmschweissigen, fettwülstigen Händen, die er so platzierte, dass ich das Echte dieses ganz und gar falsch laufenden Films als grausige Härte zu spüren bekam, und einmal mehr bestätigte sich für mich die Mutmassung, dass Realität und Fiktion sehr nahe, ja sogar übereinanderliegen können, und warum genau das im echten Leben noch immer als Fiktion abgetan wird, wurde mir da im Kino wieder bewusst. Vorne auf der Leinwand lief ein Film, und zwischen den Sesseln lief ein mieser Streifen, da stimmte vorne und hinten nichts, und ich flüsterte ihm ins Ohr: «Du verdammtes Arschloch, mach mit deinem Steifen, was du willst, lass mein Knie in Ruhe», und er stand in der Dunkelheit auf wie ein beleidigter Schauspieler und verliess das Kino vor dem Filmende, ja – es war noch lange nicht das Ende, denn vor mir war weiterhin das Krascheln in den Popcornsäcken zu hören, oder wieder besser zu hören. Komisch nur, dass die Popcornkultur in den Kinos jede Handlung in den Schatten zu stellen weiss. Himmeltraurig! Ich glaube, ich könnte mitten in einem Film im Kino vergewaltigt oder auch erschossen werden, die würden doch seelenruhig ihr Corn weiteressen.
Hoppla, dachte ich letzthin, als doch sage und schreibe irgendwo zu lesen war, man wolle den Popcornkult in den Kinos wieder abschaffen. Endlich! Ich dachte sofort an meine kleine Kamera, mit der man auch filmen kann. Ich werde also einen kleinen Dokumentarfilm über die zurückgewonnene Kinokultur drehen, wenn sie diese Maschinen aus den Foyers entfernen.
Neulich stiess ich extra einen an, der mit der vollen Popcorntüte vor dem Eingang zum Kinosaal stand. Beide schauten wir uns an und dann auf den Boden, wo das Corn verstreut lag. Er war richtig entsetzt und ich echt gespielt entsetzt. Aber der hat dann sofort gesagt, so was könne halt passieren, auch ihm könne das passieren. So was sagt keiner, dem das vorgespielt rüberkommt. Fast taten Es und Er mir leid. Er las sie dann stillschweigend vom Boden wieder auf, und einige steckte er sich gleich in den Mund.
Meistens, wenn ich ins Kino gehe, koche ich vorher Nachtessen oder stelle sonst eine originelle Kleinigkeit bereit, zum Beispiel Tomaten mit Mozzarella und Basilikum, und jedes Mal denke ich, ich könnte mir doch ein Beispiel nehmen in einem guten Film, wo sich die schönen Frauen immer von Männern ausführen lassen. Aber dann zieht mich der Film wie ein Liebhaber so sehr aus mir heraus und in ihn hinein, dass ich nur noch mit diesen schönen Filmmännern beschäftigt bin, die es im wirklichen Leben ja nur selten gibt, sodass ich das mit dem Kochen ganz vergesse oder besser gesagt, es vollkommen in Ordnung finde, wenn ich nicht auch noch daraus, also aus diesen Vorbereitungen, jedes Mal eine filmreife Szene mache, die möglicherweise zum Ehe-Homecinema ausarten könnte. Man kocht und geht in den richtigen Film, und dann kehrt man wieder heim und sitzt beim Essen so, wie man es im Film gesehen hat.
Im Kino überfällt mich manchmal eine Sehnsucht, wie ich sie draussen gar nie spüre. Ich sehne mich dann nach all den Freunden, die es nicht mehr gibt, oder nach allen, denen ich das Leben schwer machte, sodass sie mich verlassen mussten. Vermutlich spielte ich nicht mal immer falsch, aber sie haben es mir trotzdem nicht so richtig abgenommen. Sie haben mir die Wahrheit einfach nicht, eigentlich nie, abgenommen. Am echtesten ist man, wenn man lügt. Das akzeptieren sogar die Popcörnler.
Es gibt natürlich auch Freunde, die mich nicht freiwillig verliessen oder bloss deshalb, weil ich sie etwa ab und zu ihrer Rollen wegen kritisierte – nein – die starben einfach weg, als hätten sie genug von all diesen falschen Filmen oder als hätte ihnen eine höhere Macht ganz andere Rollen zugedacht. Der Film riss also mitten in ihrem Leben. Das hat mich immer umgehauen. Monatelang dachte ich, ich wäre im falschen Leben, und alle Filme konnten mir gestohlen bleiben. Aber irgendeinmal geht man halt trotzdem wieder in einen schönen Film, das können einem die Toten nicht verübeln. Und auch der schlechteste Film kann es einem nicht verübeln, wenn man dann weint, wenn einem das alles im Dunkeln hochkommt und man weinen muss. Das finde ich das Schöne am Kino: Etwas kommt immer hoch.
Lisa Elsässer
Die Schriftstellerin wurde 1951 in Bürglen, Kanton Uri, geboren. Sie arbeitete als Buchhändlerin und Bibliothekarin und studierte später am Literaturinstitut Leipzig. Dort schloss sie ihr Studium 2008 mit einem Diplom ab. Lisa Elsässer hat zahlreiche Gedichte und Prosatexte veröffentlicht und erhielt viele Auszeichnungen. 2016 erschien ihr erster Roman «Fremdgehen». Die Autorin lebt in Walenstadt SG.