Es gibt da eine Sache, die mich immer schon gewurmt hat. Ich nenne es das Luxusuhren-Paradoxon. Warum kaufen reiche Leute nur so gerne teure Uhren? Dass sie sich nicht schämen! Man sagt schliesslich: Zeit ist Geld. Das soll heissen, wer Geld hat, hat Zeit. Zeit ist das höchste Statussymbol. Sie sich einteilen und messen zu müssen, dagegen ein Armutszeugnis. Uhren sind für Arbeiter. Für all jene, die pünktlich sein müssen, weil niemand auf sie wartet. Falls sie auf sich warten lassen, werden sie kurzerhand ersetzt. In meinen Augen war es stets der Inbegriff von Ruhm und Reichtum niemals die Uhrzeit wissen zu müssen. Ja, sogar von der Tageszeit nur eine vage Ahnung zu haben. Vom Wochentag mal ganz zu schweigen. Und das Datum – Dieu m’en garde! –, das kennen wirklich nur die Ärmsten, weil sie des Monatsersten harren. Ich wollte stets nur eines sein – zeitlos. Und das nicht erst nach meinem Tod. Es ist mir zum Glück gelungen. Seit ich reich bin und berühmt, kenne ich weder den Tag noch die Stunde, stattdessen nur einen einzigen Satz: «Frau Eckhart, es ist Zeit.» Dieser Satz holt mich morgens aus dem Bett, abends auf die Bühne und nachts wieder zurück ins Bett. Dazwischen arbeite ich. Doch ich bin anständig genug, es nicht öffentlich zu tun. Öffentlich tue ich überhaupt nichts. Ich fühle mich als reicher Mensch zum aristokratischen Nichtstun geradezu moralisch verpflichtet. Wovon soll das Volk noch träumen, sähen sie mich mit Überforderung prahlen und proletarische Hektik zur Schau stellen? Eines habe ich mir geschworen: Man wird mich nie mit einer Uhr sehen. Ich nehme den Sterblichen ihre Zeitnot nicht weg. Das wäre kulturelle Aneignung. «Die Herren tragen Rolex. Der eine oder andere zusätzlich eine Apple Watch, die Vitalfunktionen misst.»
«Patek Philippe.» Ich halte ihnen mein Handgelenk hin. Die Herren reagieren nicht. Ein trüber Blick treibt auf ihren Gesichtern, wie Fettaugen auf einer Rinderbouillon. Es ist derselbe Blick wie damals, als ich von meinem Château in der Gascogne erzählte. Nach ein paar Sekunden Stille schöpften sie ihn sich vom Gesicht und zeigten einander identische Fotos der Infinity-Pools ihrer mallorquinischen Villen. Heute sind die Uhren dran. Die Herren tragen Rolex. Der eine oder andere zusätzlich eine Apple Watch, die Vitalfunktionen misst und Anrufe durchstellt. Seit «Knight Rider» habe ich keinen Mann mehr mit seiner Armbanduhr reden sehen. Wenigstens mit ihrer Rolex reden diese Herren nicht. Sie sehen sie nicht einmal an. Wozu denn auch? Ebenso wie ich besitzen sie menschliche Chronometer, die ihnen sagen, wann es Zeit ist. Die Rolex dient nur als Erkennungssymbol. Nicht für die Herren untereinander, sondern für Josef Jedermann. Der soll sehen, dass man es geschafft hat. Von einer Patek Philippe hat der Josef noch niemals gehört. Patek taugt nicht für Parvenüs.
Der Juwelier bittet mich, ihn kurz zu entschuldigen. Er dreht das Schild am Eingang um, schliesst die Tür von innen ab und schleicht in das Hinterzimmer. Gleich bringt er den Karton voll mit den entführten Küken, die er vor dem Schreddern rettete, um sie hier vor einem Haufen illegaler Mexikaner gegeneinander kämpfen zu lassen. So verhält er sich zumindest. Wie er sich verstohlen umschaut und die Fensterläden zuzieht. In Wahrheit tun wir nichts Verbotenes. Es kommt ihm lediglich so vor. Weil er so viel Lust verspürt, dass es nicht erlaubt sein kann. Er streift sich genüsslich die Handschuhe über. Ich halte das nicht für nötig und runzle dementsprechend die Stirn. Der Juwelier versichert mir, dass ich auch ein Paar bekäme. «Um meine eigene Uhr anzufassen?!» Er hört mich nicht. Er reibt das Lederband zwischen den Fingern. Die Löcher sind eng. Der goldene Dorn hat noch keines durchstossen. «Dieses Modell hat mehrere Komplikationen. » Ich bin empört. Ein Mängelexemplar? Wie kann eine neue Uhr bereits Komplikationen haben? Ich fordere einen Preisnachlass. Der Juwelier muss herzlich lachen und gratuliert mir zu dem Witz. «Im Fernsehen sind Sie nicht so lustig.» Das war kein Witz. Ich kannte «kompliziert» bislang nicht als Kompliment. Für mich bedeutet der Begriff «mühsam ohne Gratifikation». Wie eine ledige Frau Mitte 30 oder Adornos Ästhetik. «Sie zeigt etwa an, wann es Tag ist und wann Nacht.» «Wie praktisch!», höre ich mich sagen und bin mir plötzlich furchtbar fremd. Ich frage nach den Batterien. Der Juwelier schüttelt den Kopf. Nicht als eine Antwort, sondern vor Lachen. «Privat so lustig, die Frau Eckhart!» Dabei bin ich nicht lustig. Ich bin abermals empört. Bei dem Preis könnten die Batterien ruhig inkludiert sein. «Die Uhr muss täglich zwei Stunden bewegt werden.» Also das ist nun wirklich der Gipfel. Jetzt muss ich mich auch noch bewegen! Bewegung entspricht ganz und gar nicht meiner adeligen Faulheit. «Sie erhalten überdies einen mechanischen Beweger, aber der Uhr ist ein menschlicher lieber.» Danke, es reicht. Ich bin im Begriff, das Geschäft zu verlassen. Der Juwelier legt mir seine seidene Hand auf die Schulter. «Eines noch: Denken Sie bitte alle 3333 Jahre und 122 Tage daran, die Uhr um einen Tag zurückzustellen, damit sie wieder mit der Himmelsuhr übereinstimmt. »
Mein Grossonkel war demenzkrank. Er nahm sich das Leben, als er nicht länger die Uhr lesen konnte. Immer mehr Kinder heutzutage sind dazu ebenfalls ausserstande. Zifferblätter zu entziffern wird in naher Zukunft wohl eine so seltene Fähigkeit sein wie etwa das Notenlesen. Die grossen Uhren gehen schon nicht mehr. Ich bin auf der Suche nach gemeinsamer Zeit, doch an Bahnhöfen, Kirchtürmen, Rathäusern stehen fast alle Zeiger still. Niemand scheint sich daran zu stören. Analoge Uhren sieht man wohl bald nur mehr auf pathetischen Stillleben nebst einer Schale faulender Trauben oder vielleicht noch als Schmuckstück an Mädchen. Sie tragen die Uhren wie Henna-Tattoos, deren Bedeutung sie auch nicht verstehen. Keiner wird sich deswegen umbringen.
Die Patek lebt im Schliessfach einer Bank. Es gehört mir schon seit Jahren. Bisher stand es immer leer. Dennoch kam ich einmal die Woche mit einem Rollkoffer in die Bank und hielt mich damit eine Weile im streng gesicherten Kellerraum auf. Der Rollkoffer war ebenfalls leer. Ich sass lediglich am Boden und malte mir die Spekulationen der Bankbeamten aus, was denn nun in aller Welt das Schliessfach von Frau Eckhart birgt. Seitdem darin die Patek liegt, komme ich jeden Tag in die Bank. Ich habe meinen Beruf aufgegeben, um mich um diese Uhr zu kümmern. Täglich hole ich sie ab, um sie zwei Stunden zu bewegen. Die restliche Zeit des Tages habe ich wahllos Sex mit Männern. Ich muss schleunigst Nachfahren zeugen. So viele, dass es meine Linie ins 54. Jahrhundert schafft, denn dann muss die Patek gestellt werden.
Lisa Eckhart
Die österreichische Kabarettistin Lisa Eckhart (*1992) hat nach zahlreichen Erfolgen auf den Poetry-Slam-Bühnen 2015 ihr Solodebüt gegeben mit dem Programm «Als ob Sie Besseres zu tun hätten». Heute ist sie eine der gefragtesten und schärfsten Humoristinnen im deutschsprachigen Raum. Am 22.8. erscheint ihr Roman «Boum» (Zsolnay). Mit ihrem neu überarbeiteten Programm «Die Vorteile des Lasters – ungenierte Sonderausgabe
» tourt sie auch durch die Schweiz.
Di, 6.12., 20.00 Schadausaal Thun BE
Mi, 7.12., 20.00 Stadttheater Sursee LU
Do, 8.12.,19.30 Volkshaus Zürich
Fr, 9.12., 21.00 Humorfestival Arosa GR
www.lisaeckhart.com