eute, 50 Jahre Frauenstimm- und Wahlrecht! Bravo! Ich freue mich schon darauf, wenns dieses Jahr von allen Seiten Gratulationen regnet und feierliche Musik gespielt wird, wenn Hände geschüttelt (oder Ellenbogen getippt) und Reden gehalten werden und die ganze Schweiz so tut, als ob alle schon immer mit der Idee der Gleichberechtigung an Bord gewesen wären.
Denn wir leben heute schliesslich in einer vollkommen gleichberechtigten Welt (zumindest in der Schweiz). Die dunklen Jahre der Diskriminierung liegen gefühlt schon Ewigkeiten zurück. Das wird mir immer wieder von vielen Leuten erklärt, die über meinen Feminismus lachen. Haha, sagen sie, haha, Feminismus. Das braucht man doch heutzutage nicht mehr! Du musstest doch noch nie für irgendwas kämpfen! Und da haben sie natürlich recht. Mir wurde alles geschenkt. Ich habe alle Freiheiten. So viele Freiheiten, dass ich teilweise gar nicht weiss, was ich damit anfangen soll. Ich darf anziehen, was ich will (solange es nicht zu provokant, zu langweilig, zu schludrig – oder eine Burka ist), reden, wie ich will (solange ich nicht zu laut bin, denn das ist für andere unangenehm), ich durfte studieren (danke Mami, danke Papi), und jetzt darf ich sogar einen Text in einem Magazin veröffentlichen (wofür ich dankbar bin, das dürfen schliesslich nicht alle). Ich darf Hosen tragen, mein eigenes Konto eröffnen und selbst entscheiden, was ich mit meinem Geld machen will (solange ich es auch ab und zu in ein bisschen Kosmetika investiere). Ich darf meine Haare kurz schneiden (selbst wenn das viele Männer sowohl im Real Life als auch auf Social Media nicht so schön finden, wie sie mir schon oft ungefragt mitgeteilt haben), ich darf meine Achsel- und Beinhaare wachsen lassen (zumindest, wenn es mir nichts ausmacht, ab und zu eine Bemerkung oder einen angeekelten Blick zu kassieren). Ich darf einen kurzen Rock anziehen (ausser ich gehe noch zur Schule) und auch ein tief ausgeschnittenes Oberteil (obwohl ich dann – je nach Körbchengrösse – wahlweise als flachbrüstig oder obszön bezeichnet werde).
Ich darf Alkohol trinken (aber bitte nicht zu viel, das ist sonst gar nicht ladylike) und mit verschiedenen Leuten Sex haben. Hier kommt es allerdings drauf an, mit wem ich Sex habe. Habe ich Sex mit Frauen, mache ich das ja schliesslich nur, um einen Mann anzutörnen (oder aber ich bin eine Kampflesbe). Habe ich Sex mit Männern, muss ich aufpassen, dass ich dabei nicht vergewaltigt werde, denn dann bin ich wahrscheinlich selbst schuld, siehe kurzer Rock (das gilt auch in einer Beziehung). Habe ich Sex mit einer Non-Binären oder Trans-Person, ohne es zu verheimlichen, muss ich mit Anfeindungen, Unverständnis und – wenn ich Pech habe – mit Prügeln rechnen. Aber verboten ist es ja nicht!
Ich muss nicht heiraten (auch wenn alle wissen, dass sich das jede Frau insgeheim wünscht, egal, wie «emanzipiert» sie ist). Und ich darf sogar selbst entscheiden, ob ich Mutter werden möchte oder nicht (zumindest unter den Voraussetzungen, dass ich genug Geld habe, um mir regelmässig Hormone zuzuführen oder etwas in meine Gebärmutter einsetzen zu lassen – oder wenn ich mich jedes Mal beim Geschlechtsverkehr mit einem Samenträger versichere, dass ein Kondom benutzt wird, und ich das Glück habe, dass das dann nicht platzt – oder wenn ich aufgeklärt genug bin, um meine Rechte zu kennen, und meine letzte Regelblutung nicht schon länger als zwölf Wochen zurückliegt).
Ich darf öffentlich über meine Periode reden (auch wenn sich das wirklich nicht gehört und generell extrem ekelhaft ist – deswegen ist Menstruationsblut ja auch immer blau!).
Ich darf wählen und abstimmen, ich darf für ein politisches Amt kandidieren (wenn ich mit den Anfeindungen, Vergewaltigungsdrohungen und sexistischen Sprüchen, die mit einem öffentlichen Amt als Frau verknüpft sind, klarkomme) und könnte allenfalls sogar Bundesrätin werden (und würde dazu gratis eine Style-Analyse im Staatsfernsehen bekommen).
Auch jeden anderen Job darf ich ohne Zustimmung meines Mannes oder Vaters ausüben (dazu brauche ich nur die Zustimmung meines Chefs, und schon darf ich 100 Prozent arbeiten und kriege 80 Prozent Lohn), obwohl es in gewissen Bereichen ein wenig schwieriger ist, den Job als Frau zu bekommen. Zum Beispiel, wenn nur Männer über die Besetzung entscheiden und einfachheitshalber lieber unter sich bleiben (Frauen sind einfach zu kompliziert). Oder wenn der Job zwingend einen Penis erfordert, zum Beispiel um Verträge zu unterschreiben (geht einfach schlecht mit einer Vulva, das verschmiert immer so). Oder wenn beim Team-Building-Ausflug die gegenseitige Propeller-Präsentation in der Männersauna einfach dazugehört. Aber das ist nicht so schlimm, schliesslich gibt es auch viele Jobs, in denen Frauen bevorzugt eingestellt werden. Hausfrau, ein unbezahltes Praktikum, Assistenzstellen, Pflegeberufe.
Theoretisch kann ich heutzutage sogar Kinder haben und trotzdem meinen Job behalten. Dazu muss ich das Kind nach 14 Wochen bezahltem Urlaub halt auch mal zu Hause lassen können (oder wo auch immer man ein Kind lässt, wenn es 14 Wochen alt ist) und zurück ins normale Leben finden, wie das Männer ja schliesslich schon nach 2 Wochen tun. Und dann kann ich mich im Geschäft darin sonnen, dass ich nun für alle als Erstes Mutter bin. Nicht Kollegin, nicht Frau, nicht Person, sondern Mutter (auch wenn ich all die anderen Rollen auch erfülle) – und ich kann mir von allen (wirklich allen) Leuten um mich herum Vorschläge und Tipps zu meiner Mutterschaft abholen (selbst wenn ich sie nie danach gefragt habe, die Leute sind ja so zuvorkommend).
Ich darf in der heutigen Zeit aber auch zu Hause bleiben, wenn ich Mutter geworden bin. Natürlich immer unter der Voraussetzung, dass ich damit umgehen kann, finanziell komplett von einem anderen Menschen abhängig zu sein, keine gesicherte Altersvorsorge zu haben, vielleicht den Anschluss an die Arbeitswelt zu verlieren und die Missbilligung von einigen Mitmenschen auszuhalten, die nicht verstehen können, wie man sich so unemanzipiert verhalten kann.
Sie sehen: Ich darf also wirklich alles tun und lassen, was ich möchte. Alles Gute zu 50 Jahren Frauenwahl- und Stimmrecht, liebe Schweizerinnen und Schweizer. Ich glaube, wir können uns jetzt ausruhen.
Lisa Christ
Die Oltner Slam Poetin, Kabarettistin und Autorin Lisa Christ (*1991) hat Kunst & Design studiert und wurde für ihre Auftritte auf Poetry-Slam-Bühnen vielfach ausgezeichnet. 2019 hat sie mit ihrem ersten abendfüllenden Kabarett-Programm «Ich brauche neue Schuhe» Premiere gefeiert. Lisa Christ hat die Sendung «Comedy Talent Show» auf SRF 1 moderiert und schreibt für die satirische Sendung «Zytlupe» auf Radio SRF 1.