Die Digitalisierung kommt in grossen Schritten», erzählte kürzlich ein Politiker im Radio. Das hat mich ungemein beruhigt. Ich dachte ja, die Digitalisierung beamt sich heran. Oder fällt mit Lichtgeschwindigkeit ein. Aber nein, sie kommt mit grossen Schritten daher, wie einst Grossvater auf seinem Sonntagsspaziergang. Angst muss in dem Fall niemand haben vor der Digitalisierung. Noch können wir ihr davonrennen.
Das Schlagwort «Digitalisierung» ist in aller Munde, aber was damit wirklich gemeint ist, weiss offensichtlich keiner so genau. Vielleicht eignet sich die Digitalisierung darum für Politikerinnen und Politiker perfekt, um sich mit einem Tablet in der Hand als «modern» zu präsentieren. Als Macherin, als Macher am Puls der Zeit. Dass die meisten Parlamentarier in einer Zeit geboren wurden, in der das Internet noch gar nicht erfunden war, ist egal. Sie posierten in diesem Wahlherbst fleissig vor kompliziert aussehenden Apparaturen, Robotern und, am allerliebsten, mit einem Tablet. Ein Tablet lässt jeden Bundeshaus-Dinosaurier modern und dynamisch wirken, scheint man sich zu denken. Sorry, liebe Parlamentarier, ich will euch die Freude am neuen Spielzeug nicht nehmen, aber es gibt eine einfache Faustregel: Ein Tablet macht einen Grauhaarigen genauso wenig modern, wie ihn eine jüngere Freundin jung macht.
Tablets sind aber nicht nur in Bundesbern beliebt; landauf, landab werden jetzt Kindergärten mit den flachen Geräten ausgestattet. Damit die Kinder bereits früh mit den wichtigsten sozialen Kompetenzen in Berührung kommen: in Gemeinschaft schweigend auf einen Bildschirm zu starren. Freuen wir uns also auf neue Lehrmittel an den Schulen, welche ständig nach Updates verlangen, synchronisiert werden müssen und Anti-Viren- Schutz brauchen. Und aus sicherheitstechnischen Überlegungen müssen die Geräte an allen Schulen und Kindergärten mindestens alle zwei Jahre erneuert werden. Als Hersteller von Tablets würde ich mir die Hände reiben. Ganz zu schweigen davon, dass die Schulen Geräteverwalter und Techniker anstellen müssen. Ganz analog. Für die Digitalisierung. Auf Kosten der Bildung.
Viel wichtiger als Tablets in der Schule ist doch die Frage, was die Schüler mit diesen Geräten im Unterricht genau machen? Dasselbe wie analog, einfach digital? Während des Unterrichts schnell ein paar Nachrichten versenden, chatten und Youtube-Videos gucken ist nicht zwingend Multitasking. Sondern Konzentrationsschwäche. Hätten wir früher in der Schule Tablets gehabt, wir hätten die Möglichkeiten der Digitalisierung sofort begriffen. Wir hätten im Unterricht rasch die Bierpreise verglichen, und um verruchte Heftchen zu lesen, hätten wir nicht mehr die Papiersammlung im Dorf abwarten müssen.
Unsere politischen Silberrücken sind auch davon überzeugt, dass Twitter sie mit der ganzen Welt verbindet. Und so posten, tweeten und teilen sie, als gäbe es kein Morgen. Für einige gibt es dann tatsächlich kein Morgen mehr. Weil sie vor lauter Sorge, die Digitalisierung zu verpassen, vergessen haben, dass das Internet ein öffentlicher Raum ist, wo nichts vergessen wird. Den einen, unüberlegten Kommentar zu spät gelöscht und schon mussten sie feststellen, dass es eher verharmlosend ist, Instagram und Facebook als «soziale» Medien zu bezeichnen. Praktisch ist dann, dass sie beim Rücktritt nach dem Shitstorm auch der Digitalisierung die Schuld geben können. Ein echter Vorteil: Weil eben niemand genau weiss, was mit Digitalisierung genau gemeint ist, eignet sie sich bestens als Schuldige für alles Mögliche. Nur weil man weiss, dass eine Cloud nicht zwangsweise schlechtes Wetter bedeutet und man keine Briefmarken auf ausgehende Mails klebt, ist man noch lange kein Digital Native. Höchstens digital naiv.
Aber hey, es geht um unsere Zukunft! Darum lasst uns aufspringen auf den Zug der Digitalisierung. Noch bevor wir überhaupt wissen, wo es hingehen soll. Niemand will schliesslich hinterherrennen. Auch nicht mit grossen Schritten. Darum pröbeln wir ein bisschen herum, indem wir versuchen, vorsorglich jeden Kuhstall und jede Berghütte zu digitalisieren. Offenbar muss der moderne Bauer auf Bergtour in Realtime wissen, wie viel Milch seine Dorli gegeben hat. Und darüber informiert werden, wie viel Kraftfutter in den Schweinetrog kommt – während er mit grossen Schritten durch den Neuschnee stapft.
Das Steckenpferd der digital-progressiven Politikerinnen und Politiker bleibt jedoch die elektronische Volksabstimmung. Man geht dann zum Browser statt zur Urne. Eines muss ich allerdings zugeben: Die Wahlbeteiligung würde dadurch mit Sicherheit erhöht werden. Die Frage ist bloss: Wollen wir einen so hohen Anteil an Stimmen aus Russland? Und nein, es ist nicht verkehrt, dass sich die Politiker gerade mit so viel Verve auf das Thema Digitalisierung stürzen. Instinktiv wissen sie, dass wir in Europa den Anschluss schon längst verpasst haben. Den Vorsprung, den sich das Silicon Valley und China erarbeitet haben, werden wir so schnell nicht mehr aufholen können. Digitalisierung bedeutet, dass der Kunde nicht mehr König ist, sondern Arbeiter. Dass wir mit jeder Suchanfrage, jedem Post und jedem Besuch einer Seite unsere Daten hinterlassen, mit denen die Datenkraken arbeiten können. Google und Facebook haben Milliarden von Nutzern. Also Arbeitern. Täglich. Europa hat noch nicht einmal eine eigene Suchmaschine. Geschweige denn ein soziales Netzwerk.
Also, liebe Politikerinnen und Politiker, macht noch ein weiteres Bild mit dem herzigen Meitli mit Zöpfen und seinem Tablet. Schliesslich soll später keiner sagen können, ihr hättet die Digitalisierung verschlafen.
Lisa Catena
Die 1979 in Thun geborene Lisa Catena ist Satirikerin. Zuvor hat sie die Schule und zwei Studiengänge abgebrochen und war Gitarristin einer mässig erfolgreichen Punkrock-Band. Seit sie sich über ihre gescheiterte Karriere lustig macht, verdient sie damit Geld. Als erste Frau hat sie den «Swiss Comedy Award» gewonnen, und dieses Jahr erhielt sie den «Deutschen Kabarettpreis 2019». Auf Radio SRF 1 ist Lisa Catena als Gastgeberin in der Sendung «Die Satire-Fraktion» zu hören. Für den «Nebelspalter» schreibt sie Kolumnen. In der Burgunder Bar in Bern kann man sie jeden letzten Dienstag im Monat in der Talkshow «Die Klügere kippt nach» erleben.