Die Zürcher sind selber schuld. Kaum kommt die Rede auf die Qualität des neuen Chefdirigenten des Tonhalle-Orchesters, hört man das lähmende Wort: «Abwarten.» Ist die Anfangseuphorie verflogen? Wer Ex-Chefdirigent David Zinman zum Abschied im Sommer 2014 unverhältnismässig heftig hochleben lässt, muss sich nicht wundern, dass der Mythos des Alten wie ein Damoklesschwert über dem jungen Nachfolger hängen bleibt.
Der 28-jährige Lionel Bringuier wurde vor zwei Jahren vom Tonhalle-Orchester umworben und im Liebessturm erobert. Nach den ersten enthusiastisch gespielten Konzerten ab September ist nach acht Monaten der Ehealltag eingekehrt: Nun gilt es zu arbeiten, wie es allerorts heisst. Bloss: Musik machen und arbeiten, das klingt mehr nach Therapie als nach Genuss.
An der Arbeit
Wer Bringuier in der Künstlergarderobe der Tonhalle gegenübersitzt, mit ihm über Themen wie Klang, Akustik oder Orchestermusiker sprechen will, hört es immer wieder: «Wir arbeiten.» Hatte der Dirigent Riccardo Muti vor einer Mailänder Premiere Angst, sagte er jeweils tiefstapelnd: «Wir haben für diese Premiere 40 Tage seriös gearbeitet, mehr können wir nicht tun.»
Auch Lionel Bringuier stapelt tief und stellt nüchtern fest: «Es ist der Lauf der Welt: Ich bin jetzt Chefdirigent, einige Jahre später ein anderer. Das Orchester gewöhnt sich an mich – dann an einen neuen. Wir machen einfach Musik. Aber es ist ein Glück, hier in Zürich jetzt gemeinsam zu starten.»
Glücksgriff oder nicht?
Dieses Zürcher Glück ist für ihn schattenfrei. Zwei Verrisse in der David Zinman zuneigenden NZZ hat Bringuier nicht gelesen. Besser so? Da stand geschrieben, dass es bei seinen Konzerten an der klanglichen Balance mangle, dass das Gefüge auseinanderbreche, dass das Orchester das Piano aus dem Katalog seiner Ausdrucksmittel gestrichen habe und die deutende Aussage beiläufig geblieben sei. Vernichtend. Bringuier zuckt die Schultern.
Auf die Qualität des Orchesters lässt er nichts kommen; auch nicht auf seine eigene. Er arbeite schliesslich in der ganzen Welt mit Top-Orchestern, sei das in Los Angeles oder London. Dumm nur, hat jeder Tonhalle-Gast gemerkt, dass Bringuier das Orchester oder den Zürcher Saal nicht immer im Griff hat. Die Musiker sind höflich, sagen etwa, dass es mit der Lautstärke in der Tonhalle nicht einfach sei und dass es Zeit brauche, sich aneinander zu gewöhnen. Konzertmeister Andreas Janke meint: «Das ist ein anderer Dirigierstil, ein anderer Klang.»
Doch gerade beim Zauberwort Klang hält Lionel Bringuier den Ball flach. Er erachtet es als eine Qualität der grossen Weltorchester, zu denen er Zürich zählt, dass sie nicht einen einzigen Klang hätten, sondern die Fähigkeit, den Klang dem Repertoire anzupassen. Nicht er allein, sondern das Orchester und der Saal würden zusammen den Klang schaffen. Wer nachhakt, ob ein Orchester nicht doch einen bestimmten Charakter habe, der vom Chefdirigenten gelenkt werde, dem antwortet er ausweichend: «Wissen Sie, ein Chefdirigent kommt am Montag in den Saal und spielt die Werke durch, dann arbeitet man im Detail.» Wenn das Orchester merke, «dass der Dirigent gut vorbereitet ist, wenn es merkt, was er will, wenn seine Ideen klar sind, dann wird er keine Probleme haben – nirgends auf der Welt».
Wer das Orchester Anfang März auf Tournee in Wien erlebte, erkannte: Sitzen alle metaphorisch auf der Stuhlkante, ist der Saal akustisch ideal auf Bringuiers Kraft abgestimmt, kommt es gut. Die Münchner «Abendzeitung» schrieb: «So wie es aussieht, hat das Tonhalle-Orchester bei der Wahl seines neuen Chefdirigenten einen echten Glücksgriff getan.» Und so gilt tatsächlich – abwarten.
Gut eingelebt
Zürich ist Bringuier nach einem halben Jahr näher als seinem Vorgänger David Zinman nach 19 Jahren. Deutsch spricht er ordentlich. Und sogar den Unterschied zwischen «Kronenhalle» und «Sternengrill» kennt er, hier wie da hat er bereits gegessen, denn er wohnt in der Altstadt.
Sogar den Kreis 5 wird er unweigerlich kennenlernen, wenn das Orchester wegen der Tonhalle-Renovation ab Herbst 2016 in der Maag-Halle spielen wird. Vielleicht ein Vorteil, denn dort, wo David Zinman nie im Leben seinen Fuss hingesetzt hat, hängt kein Damoklesschwert.
CDs
Chopin: Klavierkonzrt Nr. 2 mit Nelson Freire (Deca 2015).
Saint-Saëns: La Muse et le Poète, Violinkonzert u. Cellokonzert (Erato 2013).
Konzerte unter der Leitung von Lionel Bringuier
Do, 28.5., 19.30 Tonhalle Zürich
Werke von Schmitt, Mussorgsky, Abe, Dukas und Bernstein Solist: Perkussionist Martin Grubinger
Fr, 12.6., 19.30 Tonhalle Zürich
Eröffnungskonzert der Zürcher Festspiele