Im letzten Herbst erhielt ich ein E-Mail meines chinesischen Verlegers, in dem er mich nach Shanghai einlud, wo eine internationale Buchmesse stattfand. «You come to China», schrieb er, «and you will have interview with important newspaper. After interview, you go to important TV Station. You then famous!» Ich war sehr stolz, dass eines meiner Bücher ins Mandarin übersetzt worden war, ich glaube, dieses Glück widerfährt nicht vielen Schweizer Schriftstellern. Aber es kam noch besser! «I can not pay money for your journey», schrieb mein Verleger, «because I have invested all my money for TV Spots for your book.» Ein Verleger, der für seinen Autor Fernsehwerbung macht! Davon könnten sich die geizigen Schweizer Verleger eine Scheibe abschneiden! Unter diesen Umständen war ich gerne bereit, für die Reisekosten selbst aufzukommen. «And if you bring me a guitar from Spain», schrieb mein Verleger, «my house belongs to you for rest of your life!» Es gefiel mir, dass mein Verleger offenbar leidenschaftlich gern Flamenco spielte, und es rührte mich, dass er keine Gitarre besass, mit der er diese Leidenschaft stillen konnte. Also kaufte ich ihm eine und packte den Koffer für Shanghai: Bye bye Schweiz, du Undankbare! Mein letzter Roman war hier von der Kritik verrissen worden. Ein Kritiker hatte geschrieben: «Reichlins neuer Roman krankt an eklatanter Vorhersehbarkeit. Schon nach der Lektüre der ersten Seite weiss man, dass der Held der Geschichte von einem gerissenenen Betrüger übers Ohr gehauen werden wird. Man weiss bei jeder seiner Geschichten, wie sie ausgehen wird.» Na gut, dann, so sagte ich mir, schreibe ich eben nur noch für die Chinesen. Die schätzen mich!
Ich stieg in Kloten mit der Flamenco-Gitarre in die Maschine nach Shanghai. Zu meiner Verwunderung sah ich im Flugzeug die dumpfen Gesichter von fünf anderen Schweizer Schriftstellern, als da waren der eitle, aber unbegabte S., die vollkommen überschätzte, aber hübsch anzuschauende B., der langatmige Liebesromane schreibende T., der arrogante H., der besser Klempner geworden wäre, und die ach so pöetische U., die mit Literaturpreisen förmlich zugeworfen wurde, weil kein Kritiker zugeben wollte, dass er den Schmarren, den sie schrieb, nicht verstand. Natürlich taten wir alle so, als hätten wir einander nicht bemerkt; wir flogen durch die Luft, die wir füreinander waren, wie die U. es ausgedrückt hätte. Ich fragte mich allerdings, was meine talentlosen Kollegen nach Shanghai trieb. Hofften sie, an der internationalen Buchmesse endlich auch, wie ich, einen chinesischen Verleger zu finden? Wussten sie denn nicht, dass die Chinesen ein Kulturvolk sind, das einen Li Bai, einen Du Fu, Bai Juyi, Yang Yi, Han Yu, Su Dongpo und Jin Ping Mei hervorgebracht hatte? Glaubten sie allen Ernstes, ihre substanzlosen Romänchen würden jemals in einer chinesischen Buchhandlung gleichberechtigt neben den grandiosen Werken eines Ba Jin und neben meinem durchaus nicht an Vorhersehbarkeit krankenden Roman liegen?
Nach der Landung in Shanghai standen meine Kollegen mit steinernen Mienen am Gepäck-Rollband, und als aus dem Schlund meine stosssicher eingepackte Flamenco-Gitarre auftauchte, griff der arrogante H. danach. Nun war ich gezwungen, ihn anzusprechen. Ich sagte: «Hoi Rolf! Du, das ist übrigens meine Gitarre.» Er sagte, nein, das sei seine. In diesem Moment glitt noch eine Gitarre auf dem Förderband vorbei. Die vollkommen überschätzte B. sagte: «Gönd mal ufft Ziite, dasch miini.» Es stellte sich heraus, dass auch die pöetische U., der unbegabte S. und der langatmige T. Flamenco-Gitarren bei sich hatten. Vor dem Ausgang des Flughafens hielt ein chinesischer Taxifahrer ein Kartonschild hoch, auf dem stand: «Writers from Switzerland please come here.» Ich versuchte dem Taxifahrer zu erklären, dass damit ausschliesslich ich gemeint war – auch meine Kollegen waren der Meinung, nur sie seien gemeint. «No, all!», sagte der Taxifahrer. «All come with me!» Im Taxi sassen wir dicht gedrängt wie eine Herde; der arrogante H. sonderte das Bonmot ab, in China werde alles zum Massenphänomen: «Aus einem einzelnen Schweizer Schriftsteller werden sechs.» Wie der Fahrer es geschafft hatte, all unsere Flamenco-Gitarren unbeschadet im Kofferraum zu verstauen, war mir ein Rätsel. «An solchen Kleinigkeiten», sagte ich zum unbegabten S., «erkennt man, dass sie ein Kulturvolk sind.»
Nach zweistündiger Fahrt erreichten wir ein kleines Haus am Stadtrand von Shanghai. Mein Verleger begrüsste uns herzlich («Welcome all you many Swiss writers!») und stellte uns seinen sechs Kindern und seiner Frau vor. Er beklagte sich darüber, dass er von den Behörden wegen mehrfachen Verstosses gegen die staatliche Ein-Kind-Politik mit hohen Bussgeldern bestraft worden sei, sodass er unsere Bücher noch nicht habe drucken können. Er werde dies aber nachholen, sobald seine Kinder als Flamenco-Sextett berühmt und wohlhabend geworden seien. Wir hörten uns im winzigen Wohnzimmer des Verlegers ein spontanes Konzert an. Seine sechs Kinder spielten auf unseren Gitarren, für die sie sich mit einer Verbeugung bedankt hatten, «Asturiaz« von Isaac Albéniz und einiges von Paco De Lucía. Wir brachen alle in Tränen aus, denn uns wurde klar, dass diese Kinder noch sehr lange würden üben müssen, bis sie das nötige Geld für den Druck der chinesischen Ausgaben unserer Bücher verdienten. Das ist das Ende der Geschichte. Und ich wüsste nicht, was daran vorhersehbar hätte sein können!
Linus Reichlin
Der in Berlin lebende 58-jährige Ostschweizer Schriftsteller Linus Reichlin hat zu Beginn seiner Karriere Reportagen, Essays und Kolumnen geschrieben, unter anderem für die «Weltwoche» und das Nachrichtenmagazin «Facts». 2008 ist sein erster Krimi erschienen, vor zwei Jahren sein letzter Roman «In einem anderen Leben» über seine holprige Kindheit.