Als Kind besass ich ein kleines Leimtöpfchen. Am Deckel des Töpfchens war ein Pinselchen befestigt. Man tunkte es in den Leim und konnte dann Dinge damit bestreichen, zum Beispiel zwei Zehnernoten, und dann klebten die aneinander. Die Zehnernoten hatte mein Grossvater auf dem Tisch liegen lassen, und nun kamen zwei Dinge zusammen: Erstens war mein Grossvater ein sehr sparsamer Mensch, zweitens war es ein sehr guter Leim. Als mein Grossvater die zwei zusammengeleimten Noten sah, riss er sie mir aus der Hand, er sagte: «Hoffentlich ist es noch nicht zu spät!» Er versuchte, die Noten voneinander zu trennen, aber ich und der Leim hatten gründlich gearbeitet. «Versuchs du mal», sagte er zu meiner Grossmutter, «du als Frau hast doch Fingernägel.» Sie schob einen davon zwischen die Noten, und es gelang ihr, ein Eckchen freizubekommen. Doch beim Versuch, an diesem Eckchen den einen Geldschein vom anderen wegzuziehen, riss das Eckchen. Zerrissenes Geld! Mein Grossvater stöhnte.
Meine Grosseltern wohnten in einem Dorf, es gab aber eine Bankfiliale, in der einer meiner Onkel arbeitete. Mein Grossvater begab sich mit der beschädigten, fest verleimten Doppelnote dorthin und bat meinen Onkel, seinen Schwiegersohn, ihm die Noten zu ersetzen. Mich nahm er mit, um mir zu zeigen, dass Geld es wert war, sehr viel Zeit darin zu investieren. Mein Onkel weigerte sich, die Noten zu ersetzen. Er war ein gewissenhafter Mensch, ein Kenner der Reglemente, wonach bei mutwilliger Beschädigung Geldscheine nicht ersetzt werden. «Jetzt sei mal nicht so protestantisch!», sagte mein Grossvater, der zwei weltgeschichtliche Ereignisse für absolut überflüssig hielt: die Reformation und die Französische Revolution. Ich sei doch noch ein Kind, sagte mein Grossvater, da könne es doch mal dazu kommen, dass zwei Banknoten zusammengeklebt würden, das sei nicht mutwillig, sondern ein Zeichen von naturwissenschaftlicher Neugierde. Mein Onkel sagte: «Ich habe das Reglement nicht erfunden, Jakob.» Mein Grossvater antwortete: «Verschwinde nach Timbuktu!» Timbuktu war bevölkert mit all den Menschen, die mein Grossvater im Laufe seines Lebens dorthin gewünscht hatte, es war inzwischen sicher eine Millionenstadt.
Den ganzen Abend lang sass mein Grossvater vor den zusammengeklebten Banknoten, während meine Grossmutter vor dem Fernseher Hans Joachim Kulenkampff anhimmelte, den mein Grossvater aus Eifersucht «das Schwulenkämpfchen» nannte. Mein Grossvater versuchte zunächst mit einer Rasierklinge, die Noten zu trennen. Dann kam er auf die Idee, sie in Seifenlauge einzuweichen, aber mein Leim war der beste Leim der Welt, man hätte damit zwei Haifische zusammenkleben können. Meine Grossmutter sagte: «Komm ins Bett, es sind doch nur 20 Franken.» Mein Grossvater rechnete ihr vor, wie viel Gold man dafür kaufen konnte, nämlich zum damaligen Wert ein Gramm, er sagte: «Willst du, dass ich ein Gramm Gold wegwerfe, während die Kinder in Afrika hungern?» Das elektrisierte mich. Jetzt erst begriff ich, was ich getan hatte: Ich hatte pures Gold ruiniert! Für Gold erschossen sich in den Cowboy-Heftchen, die ich las, reihenweise Leute, oft, nachdem sie gesagt hatten: «Ich habe eine Idee, wie wir an das Gold kommen!» Unbedingt musste ich eine gute Idee haben, und ich hatte eine. «Telefonier doch mit den Leuten, die den Leim gemacht haben», riet ich meinem Grossvater. «Sehr gut!», sagte mein Grossvater und knallte mir eine. «Das wollte ich schon den ganzen Tag tun», sagte er, und danach tröstete er mich mit Schokolade und versicherte mir, dass ich von allen in der Familie der Klügste sei.
Am nächsten Tag rief er die Firma an, die den Leim herstellte, er liess sich bis zum Produktionsverantwortlichen hochverbinden. Dieser fragte ihn, wie die Noten zusammengeklebt seien: Mit Zahl auf Vorder- und Rückseite oder mit Zahl und Kopf? Es war Zahl und Kopf. «Dann sieht es ja aus wie eine normale Zehnernote», sagte der Produktionsverantwortliche. Er riet meinem Grossvater, mit der Note einfach etwas zu kaufen, dann entstünden nur zehn Franken Verlust – das Trennen der Noten mittels Chemikalien aber würde sehr viel teurer sein.
Mein Grossvater dachte gründlich darüber nach, ob es Betrug war, mit zwei zusammengeklebten Zehnernoten im Dorfladen etwas zu kaufen. Angenommen, etwas kostete neun Franken. Dann erhielt der Dorfladenbesitzer ja eigentlich neunzehn Franken, also zehn zu viel. Allerdings war es Geld, das er nicht benutzen konnte, und möglicherweise brachte er den Klebezehner dann nicht mehr los, hätte folglich neun Franken Verlust gemacht. Aber man selbst, und das war das ausschlaggebende Argument, erlitt einen Franken Verlust mehr als der Ladenbesitzer. «Wenn du jemanden übers Ohr haust und dabei mehr verlierst als er, darfst du es tun», lehrte mich mein Grossvater.
Wir kauften im Dorfladen Lakritze für zwanzig Rappen, und die neun Franken achtzig Rückgeld schenkte mir mein Grossvater mit den Worten: «Es geht ums Prinzip.» Dass der Ladenbesitzer zwei Stunden später bei uns klingelte und meinem Grossvater die zusammengeklebten Zehner zurückgab mit der Bitte, ihm anständiges Geld – so nannte er das – zu geben, mag dazu beigetragen haben, dass mein Grossvater vier Monate später seinen ersten Infarkt erlitt. Er hatte in den nächsten 20 Jahren noch drei weitere und stürzte im Alter von 87 Jahren beim Versuch, eine kaputte Glühbirne noch mal einzuschrauben, tödlich von der Leiter. Seine Ärzte waren froh, denn sie hatten nie verstanden, wie jemand vier schwere Infarkte relativ locker überstehen konnte.
Linus Reichlin
Linus Reichlin ist 1957 in Aarau geboren und lebt heute als freier Schriftsteller und Kolumnist in Berlin und Zürich. Er hat mehrere Romane veröffentlicht, unter anderem seine Krimi-Reihe um den belgischen Ex-Polizisten Hannes Jensen. Kürzlich ist sein viel gelobter Roman «Keiths Probleme im Jenseits» im Galiani Verlag erschienen, in dem er mit viel Humor und Fabulierlust eine aberwitzige Geschichte über den wiederauferstandenen Stones-Gitarristen Keith Richards erzählt.