Soeben war der knautschgesichtige Protagonist aus Russells titelgebender Erzählung noch ein netter «Nonno» in einem italienischen Zitronenhain, bis es lapidar heisst: «Nie kommen sie darauf, dass ich ein Vampir bin.» Wer nun aber eine blutrünstige Vampirgeschichte im herkömmlichen Sinn erwartet, liegt falsch: Vielmehr entspinnt sich eine hinreissende Liebesgeschichte zweier Aussenseiter. Denn nachdem der unsterbliche Vampir Clyde 130 Jahre mit seinem Schicksal haderte, begegnet er auf dem Friedhof einer Frau namens Magreb und erkennt in ihr eine Gleichgesinnte, als sie beide ihre Reisszähne entblössen: «Es gibt eine Einsamkeit, die wohl nur Monstern eigen ist – das Gefühl, der oder die Einzige einer Spezies zu sein. Und diese Einsamkeit war jetzt vorbei.»
Magreb eröffnet ihrem Geliebten eine neue Welt jenseits der Vampir-Klischees. Und Clyde ist nicht mehr im Blut-, sondern im Liebesrausch. Doch auch Vampire haben in ihrer Beziehung mit Abnützungserscheinungen, Alltagstrott und unterschiedlichen Auffassungen von Freiheit zu kämpfen. Umso schwieriger für ein unsterbliches Paar, das die Ewigkeit miteinander aushalten muss. Mit einem Augenzwinkern sinniert Russell in ihrer Vampir-Geschichte über das Wesen der Liebe.
Irrwitzige Szenarien
«Ich lande immer ein paar Grade westlich der Wirklichkeit», sagte Karen Russell in einem Interview mit der «NZZ am Sonntag» über ihr Schreiben. Bereits in ihrem Debütroman «Swamplandia» hatte sie mit einem Krokodil-Vergnügungspark mitten in Floridas Sümpfen ein irrwitziges, von Geistern bevölkertes Szenario erschaffen. Dasselbe gilt auch für ihren neuen Erzählband. Schon nach kurzer Zeit hält das Unheimliche Einzug.
In der Geschichte «Die neuen Veteranen» etwa entwickelt die Rückentätowierung eines 25-jährigen Irak-Heimkehrers plötzlich ein Eigenleben. Seiner Masseurin erzählt er, wie es zu diesem Tattoo kam, und welches Kriegstrauma dahinter steckt. Durch ihre Berührungen ändert die Tätowierung plötzlich ihre Form, und damit verschieben sich auch die traumatischen Erinnerungen des Soldaten. Der junge Veteran, der vorher ein Wrack war, blüht auf, während die Masseurin nun ihrerseits von Albträumen geplagt wird. Was sich real und in Träumen oder Projektionen der beiden abspielt, bleibt allerdings offen. Das Unheimliche entsteht bei Russell oft aus den Seelenregungen ihrer versehrten Protagonisten – ganz nach Sigmund Freuds psychoanalytischem Befund «Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus». Meist bleibt sie in ihren Texten, so surreal und absurd die Ereignisse auch sein mögen, nah am realen Leben.
Brillante Erzählerin
Trotz düsteren Untertönen machen Russells Geschichten aber vor allem eins: Spass beim Lesen. Denn Russell ist eine brillante Erzählerin, und man folgt der vor Fantasie übersprudelnden Autorin gerne in ihre Welten, die sie in jeder Geschichte immer wieder aufs Neue atmosphärisch verdichtet. Umso mehr, da überall Humor aufblitzt: Urkomisch etwa die Erzählung «Der Stall am Ende unserer Amtszeit», in der verstorbene US-Präsidenten nach ihrer Wiedergeburt als Pferde in einem Stall aufeinandertreffen: Warren Harding als «stichelhaariges, von Blähungen geplagtes Pony, das kein Gras verträgt», James Buchanan als «wählerischer brauner Wallach» oder der ehrgeizige Eisenhower, der mit seinen kräftigen Vorderzähnen in eine unsichtbare Kamera grinst und sich eine Wiederwahl erhofft. Russells Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.
Karen Russell
«Vampire im Zitronenhain»
320 Seiten
(Kein & Aber 2013).
Preisgekrönte Nachwuchsautorin
Karen Russell gehört mit ihren hervorragend geschriebenen, skurrilen Geschichten zu den aufstrebenden US-Nachwuchsautorinnen. Sie wurde 1981 in Miami geboren und hat Englisch und Spanisch studiert. Ihre Erzählungen erscheinen u.a. im «New Yorker». Der Erzählband «Schlafanstalt für Traumgestörte» (2008) war für den «Guardian First Book Award» nominiert, ihr Debütroman «Swamplandia« (2011) war unter den Finalisten für den Pulitzerpreis. Die Schriftstellerin lebt in New York.