Fragte man mich als Kind über die Heimat meines Vaters, den Libanon, pflegte ich zu sagen: Es ist das Land der Zedern. Das Land der Ruinen von Baalbek und Byblos, des Hafens von Tyros und des Wadi Qadischa – des heiligen Tals. Es ist das Land des Meeres, der schneebedeckten Berge, der alten Klöster und Moscheen. Geht man die Gassen der Souks in Tripoli entlang, fällt buntes Licht durch die Stoffe, die zwischen den Häusern gespannt sind. Und in Beirut: überall der Geruch von Kaak, dem Sesamring, den die Strassenhändler den Kindern verkaufen, die auf dem Weg zu den Felsen am Meer sind.
Es heisst, wir sind die Summe unserer Erinnerungen; unsere Identität sei wie ein Teppich kunstvoll aus diesen Fragmenten gewebt. Doch auf welche Weise formen uns die Dinge, die wir vergessen, verdrängt oder vielleicht nie richtig verstanden haben? Und wie füllen wir diese Leerstellen aus? Ich glaube, eine Antwort lautet: mit Geschichten. Mit Geschichten und dem Vergehenlassen von Zeit.
Ist das Verklärung oder Selbstbetrug?
Ich war 21 Jahre alt im Sommer 2006 und sass auf gepackten Koffern. In der Hand das Ticket für den Flug der Middle East Airline nach Beirut, als ich in einer Mischung aus Unglauben und Entsetzen auf den Fernseher schaute, der mir zeigte: Rauchsäulen über dem Flughafen, ein brennendes Terminal. Und in den südlichen Vororten der Stadt – Zerstörung. Julikrieg, 33-Tage-Krieg – heute gibt es Namen für jenen Sommer. Für mich war es ein Einschnitt. Ein Band riss. In der nahtlosen Chronologie meiner jährlichen Familienbesuche – sonnenbeschienene Nachmittage auf der Terrasse meiner Tante, Kinobesuche mit meinen Cousins oder gemeinsame Fahrten in die Berge, auf der Ladefläche eines rostigen Toyota, um der Hitze der Stadt zu entfliehen – entstand eine Lücke.
Ist das natürliche Verklärung, selektive Wahrnehmung aus den Augen eines Kindes, später eines Heranwachsenden, oder bewusster Selbstbetrug? Wenn man sich das Bild eines Landes formt, das schöner kaum sein kann, und in dem ausschliesslich Menschen leben, die jeden Fremden freundlich grüssen. Wenn man all das ausblendet, obwohl es allgegenwärtig und nicht zu übersehen ist: die Hauswände einer vernarbten Stadt, Beirut, in den 1990er-Jahren, mit all den Ruinen am Wegrand, den Zeugnissen all der Gewalt, die hier bis vor kurzem geherrscht haben musste. Wenn man nach dem Land seines Vaters gefragt wird und eine Geschichte erzählt.
Fragt man mich heute nach dem Libanon, sage ich: Es ist ein Land des Bürgerkriegs, über den man nicht spricht. Ein Land der Leerstellen. Es ist das Land der kilometerlangen Zeltlager in den Bergen, wo die syrischen Geflüchteten leben. Das Land des Plastikmülls am Wegrand, der den Blick auf die Landschaft versperrt. Geht man die Gassen der Altstadt in Tripoli entlang, sieht man die Kinder in zerlumpter Kleidung betteln und hört Strassenhunde, die sich bellend gegen Wellblechzäune werfen.
Stunden über Stunden erzählte Geschichten
Und Beirut? Die Stadt entzieht sich jeder Festlegung. Alles dort scheint sich in immer wiederkehrenden Kreisläufen zu vollziehen. Sieben Mal, sagen die Libanesen, ist Beirut zerstört worden, und sieben Mal wurde es wiederaufgebaut. Für die achte Zerstörung, die vor einigen Wochen passierte, haben sie noch keine Worte gefunden.
Der Libanon ist das Land, über das ich schreibe, obwohl das Erzählen nichts von dem, was verloren ist, zurückholen kann. Aber – dessen bin ich mir sicher – es kann das Verlorene er-fahrbar machen. Und vielleicht habe ich meine beiden Romane deshalb geschrieben, weil ich mir wünschte, besser zu verstehen. Zu erfahren. Die Ereignisse von 2006, als ich zum Daheimbleiben gezwungen war, haben alles verändert, vor allem meinen Blick. Seitdem stapeln sich Bücher über die Geschichte des Landes, der Region, in meinen Regalen, und hunderte gespeicherte Audiodateien enthalten Gespräche mit Zeitzeugen oder Menschen, die nach dem Krieg geboren sind. Stunden über Stunden erzählte Geschichten.
Die Alten sprechen gern von den 1960er-Jahren. Von Marlon Brando und Brigitte Bardot, von den schillernden Gästen im Moonlight Hotel und davon, wie der armenische Juwelier mit dem maronitischen Schneider und dem schiitischen Obsthändler Dame spielte in den Vorhallencafés der Basare, wo man sich eine Pfeife teilte, und nach der Gesundheit der Familie fragte, aber nie nach der Religion. Die Jungen erzählen von ihren Träumen, die davon handeln, dieses Land zu verlassen. Vom Schweigen, das alles verschluckt. Von einer Elite, die den Libanon als persönliche Müllkippe begreift, von Misswirtschaft und Korruption. Die Regierenden, sagen sie, haben kein Interesse daran, uns zu schützen. Seit dem 4. August 2020 weiss die ganze Welt, dass das stimmt.
Die Explosion im Hafen ist, wie immer deutlicher wird, auch eine Implosion gewesen. Ignorierte Hinweise, Achselzucken, Wegschauen, angesichts von 2700 Tonnen Sprengstoff, inmitten von Zivilisten. 300 000 Menschen, 80 000 davon Kinder, haben von einem Moment auf den nächsten ihr Obdach verloren. Das ist im Verhältnis ungefähr so, als verlören rund 3,6 Millionen Deutsche auf einen Schlag ihr Zuhause. Inmitten der schlimmsten Wirtschaftskrise in der Geschichte des Landes. Und einer Pandemie.
Erzählen verdrängt die Sprachlosigkeit
Erneut kann ich vor dem Fernseher nur zusehen. Wie die Scherben zusammengekehrt werden. Wie die Menschen wütend auf die Strasse gehen, «Alle heisst alle» rufen, und meinen: Alle Regierenden müssen weg. Es ist dieselbe Machtlosigkeit wie 2006. Wobei, das stimmt nicht. 2006 war da auch Sprachlosigkeit. Inzwischen gibt es das Erzählen.
Bücher
Pierre Jarawan
Ein Lied für die Vermissten
464 Seiten
(Berlin Verlag 2020)
Pierre Jarawan
Am Ende bleiben die Zedern
448 Seiten
(Piper Verlag 2018)
Pierre Jarawans Kulturtipps zum Libanon
Bücher
Etel Adnan: Sitt Marie-Rose
122 Seiten, Erstausgabe: 1977
(Suhrkamp 2014)
Eine Erzählung über den libanesischen Bürgerkrieg aus dem Beirut der 1970er-Jahre: Im Mittelpunkt steht die libanesische Christin Sitt Marie-Rose, die palästinensische Flüchtlinge unterstützt und nun – ausgerechnet von ihrer alten Jugendliebe – verurteilt werden soll.
Rabih Alameddine: Eine überflüssige Frau, 448 Seiten (Louisoder 2016)
Ein Roman mit einer starken und eigensinnigen Frauenfigur: Die 72-jährige Aliyah hat sich früh von ihrem Mann scheiden lassen und lebt alleine in Beirut. Hier übersetzt sie jedes Jahr eines ihrer Lieblingswerke ins Arabische und taucht in Erinnerungen ab an ihre Familie und das Leben in Beirut während des Bürgerkriegs.
Filme
Capernaum – Stadt der Hoffnung (2019)
Das oscarnominierte Sozialdrama der Regisseurin Nadine Labaki wird aus der Sicht des 12-jährigen Zain erzählt, der als Strassenverkäufer im Armenviertel von Beirut lebt und sich alleine durchschlagen muss.
Der Affront (2017)
Der libanesische Regisseur Ziad Doueiri erzählt in seinem Thriller die Geschichte eines libanesischen Christen und eines palästinensischen Flüchtlings, die in Beirut wegen einer Lappalie aneinandergeraten. Der Streitfall landet vor Gericht und führt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den verfeindeten ethnischen Gruppen.