«Eine Seele wiegt 21 Gramm», sagt die Grossmutter zum Kind. Die 21 Gramm des Grossvaters seien nun in Tamangur, im Himmel der Bündner Jäger. Das Kind schweigt – wie fast immer – und denkt an seinen kleinen Bruder, dessen Seele im Schwarzen Meer schwimmt.

Die Grossmutter und das Kind leben gemeinsam im schattigen Dorf neben dem Fluss und den hohen Bergen. Sie erinnern sich an die verlorenen Seelen, trotzen ihrer Wehmut aber mit einem Alltag voller Abenteuer. Im Herzen der Grossmutter hat nicht nur das schweigsame Kind Platz, sondern auch der einsame Kaminfeger oder die seltsame Elsa. «Mir ist nie langweilig», sagt diese. «Ich sitze oft neben mir. Wir sind ein gutes Team.»

Sätze wie diese prägen Leta Semadenis ersten Roman, dessen Sprache so simpel daherkommt und doch so kraftvoll. 

«Tamangur» liest sich wie ein Langgedicht. Die 1944 in Scuol geborene und heute in Lavin lebende Autorin hat bisher vornehmlich Lyrik publiziert, meist zweisprachig in Unterengadiner Vallader und Deutsch.

Ihre Geschichte vom namenlosen Kind und dessen Grossmutter ist die einer geteilten Trauerarbeit und eines Zurückfindens ins Leben. Mit dem Grossvater hat die Grossmutter geteilte Erinnerungen verloren. Und dem Kind ist nicht nur der kleine Bruder im Fluss ertrunken, sondern auch die traumatisierte Mutter abhandengekommen. Dies erzählt Leta Semadeni in einem versöhnlich heiteren Ton, den nur anstimmen kann, wer weiss, was die Grossmutter dem Kind sagt: «Wenn man sich vor der Einsamkeit nicht mehr fürchtet, dann ist man frei.»

Buch
Leta Semadeni
«Tamangur»
144 Seiten
(Rotpunkt 2015).