Man wusste nicht, wer er war, wie er aussah und wo genau seine riesige Höhle sich befand. Wohnte er überhaupt in einer Höhle? Oder vielleicht in einem Schloss auf einer Lichtung mitten im düstersten Wald? Oder war er überall, wie der liebe Gott, ohne dass man es merkte? Niemand hatte ihn je gesehen, aber er war allgegenwärtig. Wann immer Anna und ihre Schwester etwas taten, das sie nach Ansicht der Grossmutter nicht hätten tun sollen, mussten sie ihn fürchten, den Bau-uh, der durch die Albträume ihrer Kindheit geisterte und der eine Macht besass wie kein anderer, nicht einmal wie die Grossmutter und schon gar nicht wie der liebe Gott, denn der liebe Gott war ein alter Mann mit Bart, der die Kinder liebte. Von der Existenz des Bau-uhs hatten die Mädchen zum ersten Mal von der Grossmutter erfahren, als sie, wie jeden Sommer, die Ferien bei den Grosseltern verbrachten. Es war an einem Tag im August, als sie zu zweit die Erdbeeren der bösen Nachbarin geerntet und sie unter dem Fliederbusch, im hintersten Winkel des Gartens versteckt, mit Wonne verputzt hatten. Die Grossmutter schien viel über den Bauuh zu wissen: wann er zu Bett ging, dass er immer sofort einschlief und wie ein Murmeltier bis zum Morgen durchschlief, was er gerne ass und wie manierlich er es trotz seinen riesigen Hände tat, was ihm Freude bereitete (brave Mädchen) und was er nicht ausstehen konnte (aufmüpfige Mädchen), wie schön seine Handschrift war, wie gut er rechnen konnte, dass seine Zeugnisse voller Sechser gewesen waren – und dass er nie lügen und niemals ein schlimmes Wort in den Mund nehmen würde, geschweige denn Erdbeeren stehlen. Der Bau-uh, sagte die Grossmutter, sei das Vorbild, dem Anna und ihre Schwester Mara nacheifern sollten, damit er nicht eines Tages komme und sie hole. Überhaupt machte es den Anschein, als würde die Grossmutter in ständigem Kontakt mit dem Bau-uh sein. Sie könne, sagte sie, seine Gedanken aus der Entfernung lesen, und wenn sie seinen Namen aussprach und das U am Ende ganz lange und dunkel nachklingen liess, erstarrten Anna und ihre Schwester und wurden vorübergehend ganz brav. Über sein Aussehen aber, ein Detail, das die Mädchen brennend interessierte, konnte oder wollte die Grossmutter partout nichts sagen. Man dürfe darüber nicht sprechen, sagte sie, zischte wie eine Kreuzotter und drückte den Zeigefinger auf ihre geschlossenen Lippen. Einmal hatte Anna, während ihre Schwester mit der Grossmutter zum Einkaufen ins Dorf gegangen war, trotz allen Ermahnungen der Versuchung nicht widerstehen können und war wieder zwischen den Erdbeerstauden der Nachbarin sitzend, mit rot verschmiertem Mund, von der bösen Frau erwischt worden, die alles der Grossmutter petzte, kaum war diese aus dem Dorf zurück. Und nun stand Anna zitternd und wimmernd vor der Grossmutter, die Spuren ihres Raubzugs im Gesicht, die Augen auf den Boden gerichtet. Ein Donnerwetter brach über sie herein. Da, plötzlich, ergriff der Grossvater Partei für sie und sagte leise: «Sie ist doch noch klein, sei nicht so streng», und die Grossmutter verliess wutschnaubend zusammen mit Annas Schwester, die während der ganzen Zeit keinen Mucks gewagt hatte, die Küche. Dann sagte der Grossvater ruhig zu Anna: «Du bist jetzt schon ein grosses Mädchen, darum darf ich es dir verraten: Die Grossmutter kann dir nicht sagen, wie der Bau-uh ausschaut, weil es diesen Bau-uh gar nicht gibt. Die Grossmutter hat ihn erfunden. Sie ist eine starke Frau und liest gerne Gruselgeschichten. Und sie ist auch eine sehr begabte Frau mit einer blühenden Fantasie!» Blühend, sagte er, und das Wort versöhnte Anna blitzartig wieder mit der Grossmutter, denn diese glich ein wenig den schönen Hortensien in ihrem Garten. Man konnte ihr nicht lange böse sein, denn sie hatte ein grosses Herz, auch wenn sie manchmal versuchte, streng zu sein. Aber konnte man dem Grossvater wirklich glauben? Und so schwankten Anna und Mara ständig zwischen der Angst, vom Bau-uh abgeholt zu werden, und der Überzeugung, dass dieses merkwürdige Ungeheuer, das nichts anderes im Sinn hatte, als kleine Mädchen in Angst und Schrecken zu versetzen, gar nicht existierte. Sie wagten es nicht, ihn sich genau vorzustellen, und gaben sich mit dem Bild einer übergrossen, dunklen Gestalt in wehenden Gewändern zufrieden. Als Anna eines Tages im Hochsommer an der Hand ihres Grossvaters durch das Dorf in Richtung Post spazierte, blieb er plötzlich stehen. Es war Mittag, die Glocken läuteten, und die Strassen waren fast leer. Aus einer Ritze unter ihren Füssen quoll ein Tropfen Teer. Anna liess die Hand des Grossvaters los und bückte sich, um den Teer mit dem Zeigefinger herauszuklauben. Da blieben plötzlich vor ihren Augen zwei riesige Sandalen stehen, die unter einem langen, braunen Rock hervorschauten. Am Rock baumelte eine lange, dicke Schnur. Annas Augen wanderten der Schnur entlang weiter nach oben. Vor ihr stand ein grosser Mensch mit einem roten, runden Gesicht. Und einem roten Bart. Während der Grossvater freundlich mit der Gestalt über das Wetter sprach, durchfuhr es Anna wie ein Blitz. Sie zog heftig an der Hand ihres Grossvaters, zeigte mit dem Finger auf die Gestalt im braunen Rock und fragte ganz aufgeregt: «Ist das der Bau-uuuh?» Der Grossvater und die braune Gestalt mussten laut lachen, und Anna wusste nicht warum. Da fischte der Bau-uh aus den Tiefen seines langen Kleides einen roten Apfel und rieb ihn so lange am Stoff, bis er glänzte wie sein Gesicht. Dann schenkte er Anna den roten Apfel. Von da an hatte sie keine Angst mehr vor dem Bau-uh. Ein Bau-uh, der rote Äpfel in der Tasche hatte, sie an seinem braunen Rock zum Glänzen brachte und den Kindern schenkte, konnte einfach nicht so böse sein, wie die Grossmutter behauptete. Sie konnte nun nichts mehr ausrichten mit dem Bau-uh. Im Gegenteil, er war jetzt Annas Freund. Tat die Grossmutter nicht, was Anna wollte, so sagte sie: «Das werde ich morgen dem Bau-uh erzählen.» Darauf musste die Grossmutter lachen, und wenn sie lachte, war es für Anna leicht, sie um den Finger zu wickeln, und so erreichte sie fast immer, was sie wollte.
Leta Semadeni
Leta Semadeni wurde 1944 im Engadiner Dorf Scuol geboren. Sie studierte Sprachen an der Universität Zürich, in Ecuador und Italien und unterrichtete an verschiedenen Schulen. Seit 2005 lebt sie freischaffend in Lavin im Unterengadin. Leta Semadeni schrieb zunächst vorwiegend Lyrik auf Romanisch und Deutsch, die sie selbst in die jeweils andere Sprache übertrug. Bekannt wurde sie 2015 mit ihrem Debütroman «Tamangur». In diesem Jahr ist ihr Roman «Amur, grosser Fluss» erschienen. Semadeni wurde unter anderem mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet.