Leon Fleisher - «Die Aura eines verwundeten Löwen»
Der 84-jährige Leon Fleisher ist mit Abstand der älteste Pianist am diesjährigen Lucerne Festival. Er ist auch sonst anders als alle andern: Ein Künstler, der unter Schicksalsschlägen litt.
Inhalt
Kulturtipp 23/2012
Mario Gerteis
Wie ein Granitblock aus der Vorzeit: So ragt dieser legendäre Pianist in die Gegenwart, denn er liess sich von einer zerstörerischen Krankheit nicht niederringen. «Die Aura eines verwundeten Löwen» ist ihm zugesprochen worden – ein Vergleich, der den Kern trifft.
Einst war der 1928 in San Francisco geborene Leon Fleisher eine der grossen Hoffnungen unter den aufstrebenden Pianisten. Mit vier Jahren begann er, Klavier zu spielen, mit acht Jahren tra...
Wie ein Granitblock aus der Vorzeit: So ragt dieser legendäre Pianist in die Gegenwart, denn er liess sich von einer zerstörerischen Krankheit nicht niederringen. «Die Aura eines verwundeten Löwen» ist ihm zugesprochen worden – ein Vergleich, der den Kern trifft.
Einst war der 1928 in San Francisco geborene Leon Fleisher eine der grossen Hoffnungen unter den aufstrebenden Pianisten. Mit vier Jahren begann er, Klavier zu spielen, mit acht Jahren trat er öffentlich auf. Und er durfte beim berühmtesten aller Pianisten studieren, bei Artur Schnabel – heute noch ein Massstab für Beethoven, Schubert, Brahms. Der Erfolg kam schnell; um 1960 rangierte Fleisher in der schmalen Spitzengruppe seiner Spezies.
1962 erschien er erstmals in der Schweiz, beim Lucerne Festival. Mit Beethovens 2. Klavierkonzert, begleitet von seinem dirigentischen Mentor George Szell mit dem Schweizerischen Festspielorchester. Das damalige «Luzerner Tagblatt» konnte freilich das Meckern nicht ganz lassen: «Sein Spiel besticht durch eine perfekte Anschlagkultur. Aber es war bis zu einem gewissen Grad fast mechanisch. Erst im kecken Rondo fanden das mit zündendem Temperament spielende Orchester und der mit perlenden Läufen und einem kristallklaren Anschlag aufwartende Solist zu überzeugender Einheit.»
Sollte sich der Rezensent getäuscht haben? Die Einspielungen nämlich, die Fleisher und Szell damals von den Klavierkonzerten Beethovens und Brahms’ gemacht haben (und die heute auf CDs wieder greifbar sind), sprechen eine ganz andere Sprache. Sie gelten zu Recht als Referenzaufnahmen.
Schicksal schlägt zu
Dann geschah das Unvorstellbare. Leon Fleisher erlitt 1965 eine seltene Nervenerkrankung, die fokale Dystonie. Mit dem Ergebnis, dass seine rechte Hand komplett ausfiel. Der Künstler wollte nicht kapitulieren. Einerseits widmete er sich vermehrt der Lehrtätigkeit vor allem in den USA. Zugleich arbeitete er gelegentlich als Dirigent. Zum andern wandte er sich einem Repertoire für die linke Hand zu. Allzu viel davon gibt es freilich nicht: Es sind vor allem Stücke, die der Pianist Paul Wittgenstein – er hatte im Ersten Weltkrieg den rechten Arm verloren – bei prominenten Komponisten wie Ravel, Prokofjew, Britten, Korngold, Strauss bestellt hatte.
In Luzern vertreten
2003 kam die nächste Wendung in Fleishers wechselvoller Laufbahn. Durch eine Kombination der komplementärmedizinischen Therapie Rolfing und dem Medikament Botox konnte er seine rechte Hand allmählich wieder einsetzen. Natürlich nicht in hochvirtuosen Reissern, immerhin in Werken, die unter den gegebenen Umständen angemessen zu bewältigen sind. Zum Beispiel in Préludes von Debussy und in kürzeren Stücken von Chopin – Werke, die vor vier Jahren beim Auftreten des genesenen Pianisten im Lucerne Festival auf dem Programm standen.
Heute erscheint Fleisher wieder in der Salle blanche des Luzerner KKL. Diesmal mit einer attraktiven Mischung von linkshändigen und «normalen» Kreationen. Zu den ersteren gehören zwei für ihn geschriebene Werke von Jenö Takacs und Leon Kirchner sowie Brahms’ Klavierbearbeitung von Bachs berühmter Violin-Chaconne. Am Schluss frönt Fleisher seiner alten Liebe für die edle Kammermusik: Er trägt mit dem Gringolts Quartett das f-Moll-Klavierquintett op. 34 von Johannes Brahms vor – was in der Tat so etwas wie ein verkapptes Klavierkonzert ist.
In den Tagen vor dem Konzert huldigt Fleisher einer andern besonderen Leidenschaft, dem Unterrichten. Er leitet im Rahmen der Musikhochschule Luzern einen Meisterkurs: Bei ihm sind Pianisten wie Yefim Bronfman, André Watts, Hélène Grimaud in die Lehre gegangen – und der Schweizer Oliver Schnyder. Dieser schwärmt von seinen damaligen Erfahrungen: «Fleisher lehrte uns den Umgang mit Puls, zeigte uns ungeahnte Möglichkeiten der Klanggebung, weihte uns in die Geheimnisse des Pedals ein, schulte unser inneres Hören und führte uns so über den Weg des grössten Widerstands zur natürlichsten Form des Musizierens und schliesslich zur Selbständigkeit.»
[CD]
Beethoven- und Brahms-Konzerte
Aufnahmen 1958–1962
Cleveland Orchestra
Leitung: George Szell
(Sony 2012).
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Ravel, Prokofjew, Britten
Konzerte für die linke Hand
Boston Symphony Orchestra
Leitung: Seiji Ozawa
(Sony 1992).
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[CD]
Mozart
Klavierkonzerte 12 & 23
Katherine Jacobson Fleisher,
Kammerorchester Stuttgart
(Sony 2009).
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