Wer Leo Tuors neusten Roman liest, muss weder Jäger sein, noch etwas von Jagd verstehen. Denn der im bündnerischen Rabius geborene Autor versteht es, auch des Jagens Unkundige in seinen Bann zu ziehen. Nicht zuletzt dank Settembrini, Protagonist des Buches und Onkel und Lehrmeister des Erzählers. Woher dessen Name stammt, bleibt offen, so wie vieles andere auch. Denn Onkel Settembrini sind eigentlich zwei: Die Zwillinge Gion Battesta Levy und Gion Evangelist Silvester. Beide sind begeisterte Jäger, Bewunderer des Himmels und begnadete Erzähler. Keiner kann sie auseinanderhalten, und wenn sie mit dem Gewehr unterwegs sind, verschmelzen sie zu einer Person.
«Settembrini ist nie auf die Jagd gegangen, ohne etwas heimzubringen. Er liebte dieses Handwerk, welches ihm gelegentlich etwas Fleisch eintrug, uns aber immerzu Geschichten», heisst es etwa. Und genau diese Geschichten, Anekdoten, Gedanken und Gefühle erzählt Leo Tuor in seinem Roman. Zu Dutzenden. Von Gemsen, Hasen, Murmeltieren, aber auch von aller Art Engeln, von bestirnten Himmeln, von Geistern und Toten. Manchmal bruchstückhaft, immer fantasievoll, eigenwillig und oft entlarvend fabuliert und philosophiert mal Settembrini, mal der Erzähler. Man taucht ein in die karge Welt der Bündner Alpen oberhalb des Vorderrheins, pirscht sich an so manchen Bock heran. Und erfährt dabei, wie sich die Bündner Jagd verändert hat – seit der Bock geschont wird. Und wenn Settembrini zum Seitenhieb gegen Regierungserlasse ausholt, darf schon mal gelacht werden: «Wenn lang genug Geissen geschossen worden sind, werden sie eines Tages sogar drunten in Chur merken, dass die Böcke keine Kitze werfen.»
Settembrini verliert nie die Bodenhaftung, Tuor (52) auch nicht. Der Rätoromane, der Philosophie, Geschichte und Literatur studierte, hat 17 Sommer auf der Alp verbracht. «Meine Vorfahren waren Hirten, Bauern und Jäger, keine Diplomaten, keine Offiziere, keine Priester», schreibt der 52-Jährige über sich. Vielleicht liegt es daran, dass es ihm gelingt, mit einer schnörkellosen Sprache und zum Teil brüskierender Offenheit das Bild von Menschen und einer Welt zu zeichnen, die so unverfälscht, so echt erscheinen. «Settembrini» ist ein Buch, das man weglegt und gleich wieder hervornimmt, um herumzustöbern, wenn einem nach Sinnieren und Schmunzeln zumute ist.
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Leo Tuor
Settembrini. Leben und Meinungen
Aus dem Romanischen von Peter Egloff
275 Seiten (Limmat Verlag 2011).
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