Die Autorin Andrea Gerk sucht in ihrem neuen Buch «Lesen als Medizin» die Antworten in Krankenakten, im Kloster oder sogar im Gefängnis. An solchen Orten taucht sie ein in die Welt des Denkens und des Fühlens, um als aktive Beobachterin dem Leseerlebnis auf die Spur zu kommen. Zu ihren Erkenntnissen gehört, dass dem Zeitpunkt der Lektüre eine entscheidende Rolle zukommt. Aber auch die Tatsache, dass die aufsteigenden Bilder und Emotionen häufig die intellektuelle Komponente überlagern. Wie sonst könnten wir uns an ein bestimmtes (Vorlese-)Leseerlebnis erinnern, bei gleichzeitigem Ausblenden von Titel oder Handlung? Unbestritten ist auch, dass sich Lesegewohnheiten ändern, etwa mit dem Alter, dem Beruf und dem gegenseitigen Austausch unter Gleichgesinnten.
Andrea Gerks Experimentierfreude ging so weit, dass sie sich von Bibliotherapeuten Werke verschreiben sowie bei der Lektüre von Gedichten ihr Gehirn von Neurowissenschaftlern analysieren liess. Weil wir Wissen auch in Bildern erfassen, lockert sie ihre Ausführungen durch handgeschriebene Leseempfehlungen auf.
Das Empfinden
Geschickt streut die Berlinerin zudem Hinweise auf körperliche Vorgänge ein, etwa das berühmte Kribbeln oder das künstlerische Entzücken, das sich nach dem «Lolita»-Autor Vladimir Nabokov zwischen den Schulterblättern bemerkbar macht. Wir registrieren je nach Lektüre Gänsehaut, einen intensivierten Herzschlag, eine veränderte Atmung oder ein Zucken um die Mundwinkel.
Zu fesseln vermögen die Beobachtungen, wie Menschen Schmerz vergessen, ihre Sprache wiederfinden oder Aphorismen fehlende Worte ersetzen bei einem Todesfall oder einem unfassbaren Ereignis. Ungewöhnlich nimmt sich der Bericht über einen Obdachlosen aus, welcher in die U-Bahn steigt und ein Gedicht von Heinz Erhardt rezitiert («Der Einsame»).
Wir wissen und finden es bestätigt: Lesen bildet, befreit, belebt, tröstet, inspiriert und eröffnet neue Dimensionen. Bei einigen führt die Liebe zum Wort zu Sucht und Wahn, bei anderen hilft sie über Krise und Krankheit hinweg. Beides heilt nicht zuletzt – wie die britische Autorin Jeannette Winterson treffend bemerkte – «den Riss, den die Wirklichkeit in die Vorstellungskraft schneidet».
Buch
Andrea Gerk
«Lesen als Medizin. Die wundersame Wirkung der Literatur»
(Roger & Bernard 2015).