Leïla Slimani: Leben für den Exzess
Leïla Slimani polarisiert mit ihrem Roman über eine Nymphomanin – und wirft wichtige Fragen auf.
Inhalt
Kulturtipp 16/2019
Letzte Aktualisierung:
22.07.2019
«Sie wird tun, was von ihr verlangt wird.» Eine gesellschaftskonforme Mutter und Ehefrau zu sein, das nimmt sich Adèle immer und immer wieder vor – und scheitert jedes Mal. Gegen aussen führt die 35-Jährige ein perfektes Leben: Sie wohnt mit ihrem erfolgreichen Mann und ihrem kleinen Sohn in einem schicken Viertel in Paris, arbeitet als Journalistin, verkehrt in gepflegter Gesellschaft. Doch für sie ist dieses Leben in gehobener Langeweile «klein ...
«Sie wird tun, was von ihr verlangt wird.» Eine gesellschaftskonforme Mutter und Ehefrau zu sein, das nimmt sich Adèle immer und immer wieder vor – und scheitert jedes Mal. Gegen aussen führt die 35-Jährige ein perfektes Leben: Sie wohnt mit ihrem erfolgreichen Mann und ihrem kleinen Sohn in einem schicken Viertel in Paris, arbeitet als Journalistin, verkehrt in gepflegter Gesellschaft. Doch für sie ist dieses Leben in gehobener Langeweile «klein und erbärmlich, ohne jeden Glanz» – sie braucht einen Kick, einer «Opiumsüchtigen», einer «Spielerin» gleich. Diesen Adrenalinschub holt sie sich im wahllosen Sex mit fremden Männern, roh und brutal, damit sie sich kurzzeitig begehrt fühlt.
Unterdrückte Welt der Triebe
Leïla Slimani geht mit ihrem preisgekrönten Debütroman «All das zu verlieren» von 2014, der nun auf Deutsch erschienen ist, an Grenzen. Ihre sexsüchtige, von unbestimmten Sehnsüchten getriebene Protagonistin polarisiert und irritiert mit ihren Exzessen und ihrer gleichzeitig gänzlich unemanzipatorischen Haltung. Die franko-marokkanische Autorin gibt zwar einige Hinweise auf die Vergangenheit ihrer ambivalenten Figur, lässt die Leserschaft aber ohne abschliessende Antworten zurück. Auch Präsident Macron gehört zu Slimanis Lesern: 2017 hat er die Prix-Goncourt-Preisträgerin zur Botschafterin für Frankophonie ernannt.
«Ich denke an all die Frauen dieser Welt, die jahrhundertelang gekocht, gearbeitet, geboren haben – und alle hatten sie auch Gedanken und Gelüste, die nie gehört wurden. All das wurde nicht aufgeschrieben, das will ich imaginieren», sagte Slimani in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger». Unterdrückte weibliche Sexualität und die fixen Erwartungen an Mutterschaft und Frausein sind ihre Themen. Im Roman geht es aber auch um die Gesellschaft als Ganzes. Durch die Sichtweise ihrer Protagonistin entlarvt sie den «gepflegten Hedonismus» der bürgerlichen Gesellschaft, die «bourgeoise Perversion», wie es Adèle nennt. Ein Buch, das Abgründe öffnet – und einen bleibenden Eindruck hinterlässt.
Leïla Slimani
All das zu verlieren
Aus dem Französischen von Amelie Thoma
224 Seiten
(Luchterhand 2019)