Auf dem Klosterplatz in Muri AG tummeln sich skurrile Gestalten in leuchtenden Farben. Frauen jeden Alters in Spitzenkleidern und mit roten Perücken wuseln durcheinander. In Rot gekleidete Trommler üben den Stechschritt, eine Frau in Weiss rennt mit weit ausladenden, schwarzen Flügeln und nur einem Schuh vorbei.
Plötzlich taucht aus der hintersten Ecke eine dürre, schwarze Gestalt auf – der personifizierte Tod. Dieser ist allgegenwärtig im Stück «la mih beruoren dih»: «Das Sterben ist ein Tabu in unserer Gesellschaft», sagt die Regisseurin Barbara Schlumpf in einer Probenpause. «Man kann es nicht üben, aber im Theater können wir uns künstlerisch damit auseinandersetzen. Das Leben bekommt einen anderen Sinn, wenn wir uns bewusst sind, dass wir endlich sind.»
In Schlumpfs Inszenierung probt eine fiktive Theatertruppe das Osterspiel. Doch da der Regisseur nicht auftaucht, fühlen sich die Darsteller zunehmend orientierungslos. Erst als sich eine Fremde einmischt, kommt Schwung in das Spiel. Denn die alte Frau namens Sophie hatte selbst vor 40 Jahren im Osterspiel die Rolle der Maria Magdalena gespielt – und sich in den Jesus-Darsteller verliebt. «La mih beruoren dih» – «Lass mich dich berühren» – hatte sie ihm in der mittelhochdeutschen Inszenierung Abend für Abend vieldeutig gesagt, als sie ihn nach der Auferstehung vor dem leeren Grab wiedererkannte. Als alte Frau erzählt sie der faszinierten Theatertruppe nun von ihren Erinnerungen und fällt schliesslich in einen Traum, in den sie die ganze Theatertruppe mit einbezieht.
Traumreigen
Beim Probenbesuch ist diese irreale Traumszene in vollem Gang. Sphärisch-psychedelische Musik deutet den somnambulen Zustand an. Die Figuren bewegen sich in Slow-motion, ihr Sprechen erklingt in widerhallenden Echos. Sophie selbst ist in mehrfacher Ausführung in verschiedenen Altersstufen präsent. Ihre Erinnerungs- und Wunschbilder ziehen in diesem farbenfrohen Traumreigen vorbei. Längst verloren geglaubte Menschen aus ihrem Leben tauchen auf – ihre Mutter, ihr Mann und natürlich ihre alte Theater-liebe, der Jesus-Darsteller. Und schliesslich erscheint auch Gevatter Tod, der sie in einem wilden Tanz ins Grab führen will.
Leben und Tod, Erinnerung und Traum sind die Hauptthemen in Schlumpfs Inszenierung – und die Frage, was wir aus unseren Wünschen im Leben machen. Das Thema der Auferstehung versteht die Regisseurin im metaphorischen Sinne: «Auch unser Alltag ist von Erlösungen, Entdeckungen, Neuanfängen oder dem Überwinden von Ängsten geprägt.»
Zurück zu den Wurzeln
Musikalisch geht die Inszenierung zurück zur jüdischen Herkunft der Geschichte. Live erklingen Klezmer und volkstümliche Weisen: Jimmy Gmür am Klavier, Michael Bösch und Barbara Kamm an der Violine sowie an dem historischen Elektronik-Instrument Theremin, David Jud an der Klarinette und Thomas Müller am Schlagzeug begleiten Sophie auf ihrer Reise zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Traum und Wirklichkeit.
la mih beruoren dih
Premiere: Mi, 23.7., 21.00
Klosterhof Muri AG
www.muritheater.ch
Das Osterspiel von Muri
Das Osterspiel ist das älteste erhaltene Drama in deutscher Sprache: Es handelt von der Auferstehung Christi und wurde seit dem 10. Jahrhundert als lateinischer Wechselgesang aufgeführt. Ein mittelhochdeutsches Fragment aus dem 13. Jahrhundert wurde vor 150 Jahren in Muri gefunden.
Die Neuinterpretation von Barbara Schlumpf und Paul Steinmann hat mit der österlichen Auferstehungsgeschichte nur am Rande zu tun: Schlumpf stützt sich zwar auf die mittelhochdeutsche Fassung und verwendet einzelne Szenen dar-aus. «Aber wir spielen nicht das alte Osterspiel und haben auch keinen klerikalen Auftrag», betont sie. Die Inszenierung, die aus meteorologischen Gründen im Sommer stattfindet, geht der Frage nach: Was löst dieses Osterspiel heute in uns aus? So kommen in der neuen Textfassung eine Reihe Handlungsstränge aus der heutigen Zeit hinzu.
Barbara Schlumpf siedelt ihre Inszenierung auf verschiedenen Spielebenen an: Sie ergänzt das historische Osterspiel mit einer zeitgemässen Handlung und einer Traumszene. Diese Ebenen sind für das Publikum klar durch Licht-, Kostüm- oder Musikwechsel ersichtlich. Auch die Sprache selbst, vom Mittelhochdeutschen zurück ins Neuhochdeutsche oder in den Dialekt, kennzeichnet diese Ebenen. Als Einführung ins Mittelhochdeutsche wurde den 41 Laiendarstellern in der Vorbereitungsphase die Literaturprofessorin Hildegard E. Keller zur Seite gestellt.