Im Februar 2016 wurde mein Sohn geboren. Im April desselben Jahres erschien mein Debütroman. Beides waren Geburten, wenn auch von ganz unterschiedlicher Art und Weise.
Heute ist mein Sohn anderthalb. Schon vor dem Frühstück räumt er die Pfannen aus und lacht sich dabei im Backofenfenster an, dann zeigt er auf seinen Latz und sagt: «Dä aleggä.»
Dem gegenüber ist mein Roman bereits ausgezogen. «So einfach war es also zu gehen» lebt nun in Bücherregalen und in Erinnerungsfetzen von Leuten, welche die 180 Seiten überflogen, halb-gelesen oder verschlungen haben. Ich habe ihn gerne ziehen lassen; der Text ist zum Buch, ist erwachsen geworden. Er ist mir entwachsen. Ich hingegen schwinge mich noch immer möglichst täglich aufs Velo, um ins Atelier zu radeln, denn kurz nach der Buchvernissage habe ich die Arbeit an einem zweiten langen Text begonnen. Vielleicht wird er mein zweites Buch. Manche seiner Buchstaben, Sätze und Seiten wurden schon an die Oberfläche getragen und bleiben auch dort, andere muss ich wieder löschen – jedenfalls wächst er behutsam vor sich hin. Rahel, eine Protagonistin dieses neuen Textes, schreibt:
Ich denke Wörter: Kalk, Sediment, Faltung.
Magmatischer Druck, Urgrund, zerklüftete Landschaft, Karst.
Ich stelle mir vor, dass das der Boden ist, auf dem ich nun stehe, ein Boden aus Wörtern aus Büchern;
Höhlenlandschaften, unterirdische Gänge. Tektonische Beben, unter der Haut.
Unter der Haut des Textes: Seine Bewohner, hervorstechend zwei Schwestern und ihre Mutter. Mein Sohn geht mir durch den Kopf, während ich an meinem Atelierplatz sitze und die obigen Zeilen schreibe, ein Glas Wasser steht schräg vor mir auf dem Tisch, daneben ein Stapel bedruckter Papiere und der aufgeklappte Laptop; ob sich mein Sohn heute wohlfühlt in der Kita?
Am Mittag hole ich ihn ab, er sitzt versunken in der Ecke und stapelt bunte Klötzchen. Dann kriecht ein Kamerad von hinten an ihn heran, seine Hand schnellt vor, der Turm fällt in sich zusammen. Beide Jungen jauchzen vor Überraschung. Auch Rahel aus meinem neuen Text hat ein Kind, sogar zwei, in ihr Notizbuch schreibt sie:
Mein erstes Bild von dir: Deine Lippen erstaunlich voll, dein Kopf breit und rund, das feuchte Haar dunkel, verstrubbelt, und deine Augen geschlossen, auf jeder Seite deiner Nase zwei tiefe Falten. Du bist noch ganz für dich, in deiner Welt von klarem Fruchtwasser; was siehst du in uns, was kennst du?
Nach dem Mittagessen zeige ich meinem Sohn ein Foto von sich selbst, auf dem er einen Monat alt ist, die Augen geschlossen, traumversunken. Statt sich selbst zu betrachten, deutet er auf ein Bilderbuch neben sich, das er mit mir anschauen will.
Wenn ich an meinen ersten Roman denke, dann möchte ich manchmal ebenfalls ablenken und auf andere Dinge zeigen, denn zuweilen kommt es mir so vor, als könnte das nicht ich gewesen sein, die diesen Text schrieb. Als hätte eine andere diesen Boden aus Wörtern kreiert. So kann ich es mir manchmal auch nicht mehr vorstellen, dass es mein Körper war, in dem sich vor vielen Monaten ein Zellknäuel einnistete, kurz darauf der Herzschlag einsetzte und mein Sohn schliesslich heranwuchs.
Rahels Bauch begann sich in den folgenden Wochen zu wölben, und je grösser er wurde, umso ruhiger fühlte sie sich. Die Übelkeit liess nach. Der Fötus wurde zum Kind. Der Uterus zur Gebärmutter. Die Plazenta zum Mutterkuchen. Wörter wie Memory-Karten, Gleiches und Gleiches deckte Rahel auf, aber die Verbindung dieser Begriffe zum Eigentlichen, zum Geschöpf in ihrem Bauch, wollte sich nicht wirklich einstellen.
Am frühen Abend sitze ich im Zug. Nachmittags war ich mit meinem Sohn im Garten, wir haben Beeren gepflückt, und als es zu regnen begann, flüchteten wir mit den Nachbarmädchen ins Haus. Nun verbringt er den Abend mit seinem Vater, und ich bin auf dem Weg zu meiner Geldarbeit. In den Abteilen neben, hinter und vor mir sitzen Leute, die reisen wie ich, mit unterschiedlichen Destinationen und aus anderen Gründen. Einige blicken aus dem Fenster, andere beissen in ein Sandwich, manche tippen auf ihrem Smartphone. Oder lesen ein Buch. Diese Lesenden folgen Buchstaben und Sätzen und Seiten wie einer Fährte; sie lassen sich hineingleiten in die Welt des Textes, sinken ein in den Boden aus Wörtern aus Büchern.
Mein Sohn liest, hört, riecht, fühlt sich hinein in die Welt, in die er geboren wurde. Am Nachmittag sagte ich «Baum», er zeigte aus dem Fenster und sagte «Baum». Ich sagte «Buäch», er lachte und reichte es mir, dann trommelte er auf seinen Bauch. Wie nahe «aneliggä» und «aaleggä» sich in seinem und auch in meinem Mund befinden, «chochä» und «guggä», «meeh» und «Maa», das fällt mir verstärkt auf, seit sich mein Sohn in die Sprache vortastet.
Wie die Grenzen manchmal verwischen, fällt mir auch auf. Zwischen meinem Blick auf die Welt und dem Blick meines Sohnes auf die Welt, zwischen meinem Roman, den ich bereits schrieb, und dem Roman, den ich jetzt schreibe; zwischen dem, was ich schreibe, und meinem realen Leben.
Ich spanne Linien zwischen all diesen Polen, es bildet sich so etwas wie eine zerfurchte Haut, und unter dieser Haut pocht eine Keimzelle, in der dies alles entsteht. Ein Kind, ein Buch, die simple Lust, Memory zu spielen oder ein Sandwich zuzubereiten, Wörter zu finden für das, was ich sehe und nicht-sehe, oder: Noch nicht sehe.
Kursiv: Auszüge aus Laura Vogts entstehendem Roman mit dem Arbeitstitel «In Zwischenräumen».
Laura Vogt
Die Autorin wurde 1989 in Teufen AR geboren und besuchte von 2012 bis 2015 das Schweizerische Literaturinstitut in Biel. Heute lebt sie mit Partner und Sohn in St. Gallen. Ihr Debütroman «So einfach war es also zu gehen» erschien 2016 und handelt von einer jungen Frau im Taumel zwischen Kindheit und Erwachsensein.Derzeit arbeitet Laura Vogt an ihrem zweiten Roman.www.lauravogt.ch