Gestern Nachmittag sass ich mit meiner Tochter vor dem Haus. Sie hatte gerade damit begonnen, das eine Spiel zu spielen, in dem ich ihr Kind bin und sie meine Mama, die mit den Worten «ich muss jetzt gehen» von mir wegspaziert, Richtung Scheiterbeige und weiter zur Quartierstrasse. «Du musst weinen!», befiehlt mir meine Tochter-Mutter jeweils, bevor sie mir einen letzten Blick über die Schulter zuwirft. Ich versuche, ein Kleinkindweinen zu imitieren, und frage daraufhin: «Wohin gehst du genau, Mama?» Worauf sie, ohne sich nochmals umzudrehen, erklärt: «Nach St. Gallen. Arbeiten!»
Dann verschwindet sie zielstrebig hinterm Weissdorn. An diesem Nachmittag war meine Tochter gerade auf Höhe der Scheiterbeige, als mir Szibilla ins Bewusstsein kam und ich mir vorstellte, dass sie in diesem Moment anrief und mich geradeaus fragte, ganz nach ihrer Art, wie ich in der Zwischenzeit dazu stünde, Kinder und damit diese grosse Verantwortung zu haben. In der Zwischenzeit kam meine Tochter-Mutter wieder auf mich zu und blickte mich mit den erwartungsvollen Augen einer Dreijährigen an.
Ich war aus der Rolle gefallen, aus der Rolle des Kindes, das verlassen wird von der Mama, wenn auch nur für kurze Zeit. Ich weiss, dass dieses Rollenspiel nicht von ungefähr kommt, dass meine Tochter damit etwas zum Ausdruck bringt, was sie beschäftigt. Sie hat in echt eine Mutter, die immer mal wieder für zwei, drei, sechs Tage nicht da ist, weil sie in dieser Zeit in ihrem Atelier arbeitet, auf Lesereise ist oder ein Aufenthaltsstipendium wahrnimmt, wie letztens in Gottlieben. «Wo warst du, Mama?», fragte ich meine Tochter-Mutter, weil ich wusste, dass sie das wollte, und sie sagte: «Das habe ich doch gesagt. Arbeiten.»
Ich fragte: «Hat es dir Spass gemacht?», und sie antwortete knapp und klar: «Ja!» Dann ging sie weiter zu den anderen Kindern der Genossenschaft, die drüben bei den Wäscheleinen Fangen spielten. «Laura?», fragte Szibilla. Im Hintergrund hörte ich jemanden lachen. «Sind Romi und Nora bei dir?», fragte ich zurück, und Szibilla antwortete: «Ja. Und auch die Kinder.» Szibilla, Romi und Nora haben es also geschafft, wegzukommen aus dem Rheintal, wo ich sie im Mai letzten Jahres zurückgelassen hatte, in einem Unwetter, mit Blick über den Bodensee. Wie froh ich darüber bin, dachte ich, während ich beobachtete, wie mein Sohn von einem der Nachbarskinder gefangen und nun selbst zum Fänger wurde; mit seinen langen Beinen rannte er den anderen nach, die Kinderschar stob lachend auseinander.
Romis Stimme holte mich zurück ans Telefon; sie redete etwas von Bodensee, und ob ich nicht mit meinen Kindern zu ihnen reisen wolle, sie hätten es sich gemütlich gemacht zu sechst – drei Frauen, drei Kinder. Dann übertönte ein Rauschen Romis Stimme, und ich hörte nur noch ein Kichern, oder war das Kinderweinen? Szibilla, Romi und Nora sind meine Romanfiguren. Ich habe den Text über die drei Freundinnen im Mai 2022 abgeschlossen, habe sie seither quasi sich selbst überlassen. In der Erzählzeit des Romans haben Szibilla und Romi einiges zu diskutieren und bringen dadurch bei der jeweils anderen etwas ins Rollen.
Szibilla ist kinderlos und findet, dass es allgemein besser wäre, wenn sich die Menschen nicht weiter fortpflanzen würden – nicht nur, um weniger abhängig zu sein als Individuum, sondern auch, um unseren Planeten nicht weiter zu verschmutzen. Romi hingegen ist zu dem Zeitpunkt schwanger mit ihrem zweiten Kind und vor Kurzem eine Beziehung mit einem zweiten Mann eingegangen. Innerhalb der vier Tage, die Romi und Szibilla im Rheintal verbringen, nähern sie sich einander an. Dies, während sie darauf warten, dass Nora endlich von der Matratze aufsteht, auf die sie sich in ihrem ehemaligen Kinderzimmer gelegt hat, und ihr Schweigen bricht.
Ich hörte noch immer das Rauschen an meinem Ohr; die Kinder hatten ihr Fangen-Spiel aufs grosse Trampolin im Garten verlagert. «Schau mal!», rief meine Tochter; ich sah, wie sie übers ganze Gesicht strahlte, während sie auf und ab hüpfte. Kinder haben – ob ich in der Zwischenzeit anders dazu stehe? Ich hatte nie anders dazu gestanden als jetzt, hatte sie immer alle verstanden und verstehe sie noch immer: Szibilla und ihre guten Gründe gegen das Kinder haben; Romi, die alles will, Kinder und Beziehungen jeglicher Art, diese Art Fülle also; und auch Nora, die innerhalb einer schwierigen Partnerschaft ungeplant Mutter wurde und auf einmal nicht mehr konnte, plötzlich diese Schwere spürte, die mit den eigenen Erfahrungen, dem eigenen Aufwachsen zu tun hat, mit Rollenmustern und Erwartungen, die sie selbst prägten und prägen und nun auch ihre kleine Tochter – unweigerlich. Das Rauschen brach ab.
Die Sonne bohrte sich durch eine Wolke und schien mir direkt ins Gesicht. Jetzt ist es gut, Mutter zu sein, dachte ich, jetzt, wo das Buch geschrieben und das kleinere meiner beiden Kinder aus den Windeln rausgewachsen ist; aber auch vorher war es schon gut. Nur – vielleicht muss ich mir jetzt darüber weniger Gedanken machen, dadurch, dass ich mit Szibilla, Romi und Nora einiges durchleben und durchdenken konnte, was mich beschäftigte; dadurch, dass ich mit ihnen monate- und jahrelang täglich kommuniziert habe. Ich stellte mir vor, eine Nachricht an die drei zu tippen: Machts gut! Wir besuchen euch mal im Sommer. Haltet mich auf dem Laufenden, ja? Dann drückte ich auf «Senden».
Laura Vogt
Die Autorin, geboren 1989, studierte Kulturwissenschaften an der Universität Luzern und Literarisches Schreiben an der Hochschule der Künste in Biel. Heute lebt sie mit ihrer Familie in der Ostschweiz. Ihr dritter Roman «Die liegende Frau» erscheint im September 2023 bei der Frankfurter Verlagsanstalt. Darin geht es um weit mehr als um Mutterschaft. Gemeinsam mit Karsten Redmann betreibt sie den «Textkiosk» und ist als Mentorin und Coachin tätig.
www.lauravogt.ch
www.textkiosk.ch