Nach Eden, also in einer ganz und gar nicht paradiesischen Welt, spielt sich die ganze menschliche Zivilisationsgeschichte ab: Gräueltaten ohne Ende – von Hexenverfolgung und Kolonialismus bis zu Weltkriegen und Euthanasie. Vieles davon nimmt Daniela Seel in ihrem buchlangen Gedicht «Nach Eden» auf. Knapp und eindringlich skizziert sie etwa die Mischung aus Erkenntnisinteresse und eurozentrischer Arroganz, mit der Alexander von Humboldt in Südamerika Skelette taxierte und einsammelte.
Auch der Schulweg der Dichterin hatte über einen Schauplatz entsetzlicher Verbrechen geführt. Auf dem Kalmenhof in Hessen waren im Nationalsozialismus Kinder mit Krankheiten oder Behinderungen ermordet worden. «Dass dort hinter der Böschung / ein geheimer Friedhof für mehrere hundert / ermordeter Kinder lag, Leichen in Gräbern gestapelt, / das jüngste kaum ein Jahr alt, wusste ich nicht. Warum.»
Frage nach der eigenen «Gabe» zur Grausamkeit
Daniela Seel vollzieht eine anspruchsvolle und mutige Synthese zwischen solchen Beobachtungen und der Reflexion von persönlichen Erfahrungen. Der Verlust eines Kindes während der Schwangerschaft ist das intime Thema, das alle Suchbewegungen des Bandes durchdringt. Vom Ausbleiben des Herzschlags über die Verabreichung des Medikaments Cytotec bis hin zur Entsorgung: Nichts entzieht sich der poetischen Selbsterkundung, die immer wieder nach der eigenen «Gabe» zur Grausamkeit fragt.
Doch «Nach Eden» ist kein Klagelied, sondern eine Auseinandersetzung mit einem Leben, zu dem auch das Loslassen und der Tod gehören. Seel wirft grosse Fragen auf, etwa diejenige nach der Ethik der Frühdiagnostik. Ihr Text ist ein Ringen um Akzeptanz, um eine begrüssende Haltung gegenüber der Sterblichkeit. «Mein Kind hat mir mein Sterben geschenkt.»
Seels Verse sind starker Tobak, doch deren Bitterkeit ist aufgehoben in der musikalischen Süsse der epischen Geste, mit der dieses buchlange Gedicht vorgetragen wird. Und immer wieder tauchen trauernde Wale, die Totenwache bei ihrem tot geborenen Jungen halten, aus dem tröstlichen Licht der Tiefsee auf.
Seels Auslegung der Vertreibung aus dem Paradies enthält auch eine hoffnungsvolle Sicht der (ersten) Frau. Denn Eva habe sich mutig für Erkenntnis und Lust entschieden. «Nehme ich Eva ernst, / ist die Vertreibung aus dem Paradies nicht Rauswurf, sondern / Auszug. Der Ausgang des Menschen in die Zeit. In Sterblichkeit.»
Buch
Daniela Seel
Nach Eden
96 Seiten
(Suhrkamp 2024)