Der Ich-Erzähler hat seine grosse Liebe an den besten Freund verloren. In Tomas Espedals autobiografischem Werk reist er auf den Spuren des italienischen Dichters Francesco Petrarca (1304–1374). Auch dieser war liebeskrank von Nizza nach Avignon unterwegs, wo er einst seine grosse Liebe zum ersten Mal erblickte. Espedal orientiert sich an Petrarcas «Canzoniere». In dieser Sammlung von 366 Gedichten, die heute zur Weltliteratur gehört, schreibt Petrarca über seine unerfüllte Sehnsucht zu einer Frau und deren Tod.
Ein 200 Seiten langes Gedicht
Wie der Renaissance-Dichter schreibt Espedal die Leidensgeschichte aus der Sicht des Verlassenen. Der Ich-Erzähler versucht, sich ins Gehen und Schreiben zu retten, er trinkt und raucht, um sich von «all den schlimmen guten Tagen / die jetzt härter geworden sind / fast unerträglich / seit wir nicht mehr zusammen sind» abzulenken. Als die Geliebte ging, «blieb ich liegen / krank / schlaflos am Rande des Zusammenbruchs».
Der 58-jährige aus Bergen stammende Espedal wird gelegentlich mit seinem norwegischen Schriftstellerkollegen Karl Ove Knausgard und dem Krimiautor Jo Nesbø verglichen. Doch Espedal ist kein Mann der Selbstpräsentation, sondern der leisen Worte. «Das Jahr», um das es hier geht, beginnt am 6. April 2014 und zieht seine Leser mit poetischen Sätzen in seinen Bann. Es ist ein rund 200 Seiten langes Gedicht: klangvoll, traurig und nachdenklich. Alleine die Beschreibungen der Wegstrecken werden so bildlich-intensiv beschrieben, dass der Leser diese vor seinem inneren Auge mitspazieren kann: «eine so schöne Choreografie / dass ich stehenbleibe verzaubert / von der Schönheit dieser Vorstellung …».
«Das Jahr» ist Espedals vorletztes Buch einer auf zehn Teile angelegten Reihe. Die Bücher experimentieren mit unterschiedlichen Textformen: Essay, Tagebuch, Briefe. Wie schon in seinem wunderbar anrührenden Buch «Wider die Natur» schreibt Espedal über die Beziehung zwischen einem älteren Mann und einer wesentlich jüngeren Frau.
Das Leben mit seinen Höhen und Tiefen
Und wie in seinem 2018 auf Deutsch erschienenen Buch «Bergeners» geht es um ein Beziehungsende. «Du hast sie losgelassen / doch du liebst», quält sich der Erzähler. Dieser macht sich mit seinem Vater auf eine Reise auf einem Kreuzfahrtschiff, wo ihn die Vergänglichkeit einholt. Der Anblick des 78-jährigen Vaters, der «alt und schwach» geworden ist, ist unerträglich für den Sohn. «Ich ertrage es nicht zu sehen / dass mein Vater mittlerweile abhängig ist /wie ich einst abhängig von ihm war.» Dieser habe sein Soll erfüllt, müsse nur noch ein letztes Buch über den Tod schreiben, erkennt der Sohn.
Auch wenn «Das Jahr» stellenweise etwas arg melancholisch ist, ist es ein Genuss, den Reflexionen zu folgen: Es lädt ein zum Nachdenken über das Leben, die Höhen und die Tiefen.
Buch
Tomas Espedal
Das Jahr
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
196 S. (Matthes & Seitz 2019)