kulturtipp: Lahav Shani, sind Sie ein junger Dirigent?
Lahav Shani: Ich weiss es nicht, ich habe mich immer jung und immer alt gefühlt – alterslos.
Was heisst das eigentlich: «Ein junger Dirigent»?
Was heisst es, ein junger Mensch zu sein? Was heisst es, ein junger Komponist zu sein? War Schubert ein junger Komponist, als er den «Erlkönig» schrieb? Wüsste man es nicht, dass er damals 16 war, könnte man es sich nie vorstellen. Ich will mich nicht mit Schubert vergleichen, aber das Alter spielt in der Kunst keine Rolle.
Ist dieses Jungsein bei Dirigenten gar eine Qualität?
Erfahrung kann die Sache noch verbessern, klar, aber der Jugend fehlt es im Prinzip an nichts, es ist etwas Frisches da. Es besteht noch keine Gefahr, in Routine zu verfallen. Ich bin total motiviert, und diese Motivation ist auch für das Orchester wichtig: Es darf nicht daran denken, wie oft es schon eine Brahms-Sinfonie gespielt hat.
Im Orchester sitzen alte Hasen, die Brahms hundertmal gespielt haben. Ist es schwierig, sie zu überzeugen?
Es ist schwierig, wenn ich mich vorbereite – also, bevor ich vor das Orchester trete. Da gilt es, unheimlich viel zu arbeiten. Und es ist schwierig, wenn man daran denkt, wie die grossen Dirigenten – Furtwängler, Karajan oder Barenboim – Brahms dirigiert haben. Da frage ich mich: Warum denn ich auch noch? Was kann ich da noch dazu beitragen?
Und was antworten Sie sich?
Wer keine Antwort hat, soll das Stück nicht dirigieren. Aber nach sorgfältiger Vorbereitung, wenn ich endlich vor dem Orchester stehe und tatsächlich Musik mache, dann erkenne ich, dass ich die Werke neu entwickeln kann. Hat man eine persönliche Beziehung zum Werk aufgebaut, dann wird man nicht alles wiederholen und kopieren. Trotzdem, wenn ich die grossen Meister höre, denke ich schon manchmal, ich sollte einen anderen Beruf finden.
Was tun Sie, wenn Sie das erste Mal vor ein berühmtes Orchester treten?
Ich lasse das Orchester immer zuerst spielen, bevor ich etwas sage. Mein Job ist es nicht, das Orchester alles zu lehren, ihm vorzuschreiben, wie es sein soll. Ich höre zu, wenn mir etwas gefällt, sage ich nichts oder «Bravo». Gefällt mir aber etwas nicht, frage ich: «Warum spielen Sie das so?». Dabei muss auch ich begründen können, warum ich so denke, und warum der Komponist so dachte. Vieles funktioniert besser, wenn Sie ohne viele Worte etwas zeigen können.
Den Augenblick, wenn da diese 80 fremden Musiker sitzen, stelle ich mir unheimlich vor. Rein – und jetzt los?
Man kann eigentlich nichts über das Orchester wissen, bevor man nicht zusammen musiziert hat. Klar, hört man vor einem Debüt: Pass auf, das ist ein arrogantes Orchester, vor allem mit einem jungen Dirigenten. Und doch merkte ich nach ein, zwei Minuten: Das geht bestens. Jeder muss seine eigenen Erfahrungen mit einem Orchester machen. Wir sind Menschen, bevor wir Musiker sind.
Am Montag beginnen in Zürich jeweils die Proben, am Mittwochabend ist das Konzert. Ist das nicht sehr kurz, zumal Sie im Oktober das erste Mal vor dem Tonhalle-Orchester stehen?
Bei der allerersten Probe mit dem Orchester von Rotterdam war es nach zwei Sekunden klar, dass wir ein tolles Konzert miteinander haben würden – jetzt bin ich dort Chefdirigent. Man weiss es oft schnell: Ist das Verständnis gut, geht es nur um die Musik. Ist das Orchester gut – so wie das Tonhalle- Orchester – reicht das.
Und was, wenn die Chemie nicht stimmt?
Wenn das Orchester die Vorstellungen des Dirigenten professionell umsetzt, kann das Konzert trotzdem gut werden – einfach weniger explosiv vielleicht. Das gelingt, weil das Orchester gut ist: Es ist gut, obwohl da ein Dirigent steht.
So spricht eigentlich ein Orchestermusiker, Sie aber sind Pianist.
Nein, ich war Kontrabassist, kenne das Orchester durchaus von innen. Ich hatte nie eine fixe Stelle, aber habe sehr oft mit dem Israel Philharmonic gespielt – mit Mehta, Barenboim oder Masur. Seit ich in Berlin lebe, folgte ich Barenboim sehr intensiv.
Was bewundern Sie an ihm?
Darüber könnte ich ein Buch schreiben. Von Barenboim habe ich gelernt, was ein Orchester überhaupt machen kann, und wie man es dazu bringt. Ich erinnere mich daran, wie ich ihn das erste Mal traf. Er probte Mozarts «Kleine Nachtmusik». Ich dachte, man spiele einmal durch, und dann sei das Stück vorbereitet. Er aber hat eine ganze Stunde lang an den ersten zwei Minuten gearbeitet: an jeder kleinen Phrasierung, an jeglicher Dynamik. Da habe ich gesehen, dass man mit einem Orchester alles machen kann, was in der Partitur steht, und alles, was nicht drinsteht. Der Dirigent muss nur wissen, wie.
Lahav Shani
Lahav Shani wurde 1989 in Tel Aviv geboren. 2013 gewann er den Gustav Mahler Wettbewerb. Seitdem leitete er unter anderen das Los Angeles Philharmonic Orchestra und die Wiener Philharmoniker. In der Saison 2017/18 war Shani ständiger Gastdirigent der Wiener Symphoniker. Er ist Chefdirigent des Rotterdam Philharmonic Orchestra und ab 2020 des Israel Philharmonic Orchestra.
Konzerte mit Lahav Shani
Migros Classics
Mit Rotterdam Philharmonic
Do, 25.10., 19.30 Tonhalle Maag Zürich
Fr, 26.10., 20.00 Victoria Hall Genf
Lisa Larsson singt Berwald-Lieder und Mahlers Vierte
Mit Tonhalle-Orchester Zürich
Mi/Do, 28.11./29.11., jew. 19.30 Tonhalle Maag Zürich
CD
Camille
Saint-Saëns
Karneval der Tiere
Wiener Symphoniker
(Solo Musica 2016)