Nachsichtige, gelassene alte Damen und Gentlemen? Nicht bei der kanadischen Autorin Margaret Atwood. Ihre Figuren sind zwar meist jenseits der 60, aber von Altersmilde keine Spur. Zum Beispiel Verna, die im hohen Alter die Kunst des Flirtens perfektioniert hat – erfolgreich erprobt bei ihren vier reichen Männern, die alle eines nicht ganz natürlichen Todes gestorben sind. Als Verna auf einer Schiffsreise in der Arktis dem ehemaligen Highschool-Herzensbrecher Bob begegnet, kochen die alten Hass-Gefühle wieder hoch. Er hatte ihr als Teenager übel mitgespielt, ihr Leben geprägt: «Es war Bob, der sie – sprechen wir’s ruhig aus – zur Mörderin gemacht hatte.»
Gefriergetrockneter Bräutigam
50 Jahre, einige Zahnprothesen und Schönheitsoperationen später erkennt Bob sie nicht mehr. Doch Verna ihn – und sie schmiedet den perfekten Plan, wie sie den einstigen Peiniger mit Anzüglichkeiten einlullen und unauffällig zur Strecke bringen kann. Auf der titelgebenden «steinernen Matratze» irgendwo in den Weiten der Arktis schlägt sein letztes Stündlein …
Mordgelüste hatte auch die namenlose Frau in einer weiteren Erzählung: Ihren Bräutigam bewahrt sie gefriergetrocknet in einem Lagerraum voller ungebrauchter Hochzeits-Utensilien auf. Der Kleinkriminelle Sam entdeckt den makabren Kühlschrank-Inhalt. Anstatt dass er die Polizei ruft, lässt er sich auf die Braut ein. «Angegraben zu werden von einer echten Mörderin! Echt schräg, abenteuerlich, erotisch! Er hat sich schon seit langem nicht mehr so lebendig gefühlt.» Es versteht sich von selbst, dass diese Geschichte für Sam kein gutes Ende nimmt.
Gnadenlos ehrliche Beobachtungen
Die 77-jährige kanadische Autorin Margaret Atwood, die unter anderem mit dem renommierten Man Booker Prize ausgezeichnet wurde, geht mit Sarkasmus ans Werk. Nicht nur in den Mordgeschichten, sondern auch bei den Alltagsbeschreibungen führt sie eine äusserst spitze Feder. Ihre gnadenlos ehrlichen und gerade dadurch so komischen Beobachtungen zum Alterungsprozess lassen den Lesern das Lachen manchmal auf dem Gesicht einfrieren.
«Geronto-Punk» nennt Martin, genannt Tin, etwa die Frisur seiner Zwillingsschwester Jorrie. Eine weisse Haarsträhne mit einem kecken roten Farbklecks kommentiert er folgendermassen: «Das Gesamtbild ist das eines aufgeschreckten Stinktiers im Scheinwerferlicht nach der Begegnung mit einer Flasche Ketchup.» Die Lieblingsbeschäftigung seiner Schwester ist der Besuch von Beerdigungen der Menschen, die sie nicht gemocht hat. «Sie will auf den Gräbern stepptanzen», ist Tin überzeugt. Auf der Trauerfeier von Jorries Ex-Liebhaber Gavin, der sie in Jugendtagen hat sitzenlassen, begegnet sie ihrer einstigen Kontrahentin Constance. Das Treffen der alten Damen, die sich anfänglich fast an die Gurgel springen, endet in einer überraschenden Geste. Tin, der seine Schwester hütet «wie einen schlecht erzogenen Terrier», versteht die Welt nicht mehr: «Was für ein schräges Frauending ist hier am Laufen?»
Die Leser haben den selbstverliebten Dichter Gavin und die zarte Fantasy-Autorin Constance schon in den beiden vorherigen Geschichten kennengelernt. Denn die ersten drei der neun Erzählungen hat Atwood thematisch verknüpft und gibt zum Vergnügen der Leser teils dieselben Ereignisse aus anderer Perspektive wider.
Und mittendrin ein melancholischer Kern
Trotz Humor offenbaren alle Geschichten einen melancholischen Kern. Sie lassen erkennen, was aus den einst hochfliegenden Träumen der jungen Wilden geworden ist. Welche Sehnsüchte die Senioren noch immer in sich tragen, über welche schmerzhaften Erfahrungen sie nicht hinweggekommen sind, wo sie Trost finden, welchen Illusionen sie im Alter unterliegen. Aber auch welche Freiheiten sie sich herausnehmen – und wo ihre Abgründe liegen. Zwischen den zynischen Kommentaren lässt Atwood immer die urmenschlichen Bedürfnisse erkennen. Die bissige, fabulierfreudige Autorin aus Toronto hat rund 50 Bücher publiziert: Sie weiss, wovon sie spricht, und verflicht dieses Wissen in lustvoll anarchischen Erzählungen.
Buch
Margaret Atwood
«Die steinerne Matratze»
304 Seiten (Berlin Verlag 2016)