Ein Satz kann mehr erzählen, als man denkt. «Die Raben gehen über den Schnee wie Finger von Klavierschülern über Tasten.» Der Zeuge dieser Szene ist Willibald, den seine geliebte Yolanda einst verlassen hatte. «Und ein Leben lang strengt er sich an, sich der Einsamkeit und der Menschen zu erwehren, da Einsamkeit und Menschen zerstörerisch sind.» So hat er genügend Zeit, die Raben zu beobachten.
Die Baselbieter Schriftstellerin Adelheid Duvanel hat den Text «Willibald» 1988 in ihrem Erzählband «Das verschwundene Haus» im Luchterhand-Verlag veröffentlicht. Jetzt ist die Kurzgeschichte in der kürzlich erschienenen Sammlung «Fern von hier» neu zu lesen.
Unglücksraben, Kindsköpfe, Ungeschickte
Bei aller Vielfalt haben diese 251 Texte eines gemeinsam: Die Protagonisten kämpfen um ihre Seele. Sie spüren, dass sie nicht in den Alltag der anderen passen. In ihrem verinnerlichten Widerstand entwickeln sie absurde Strategien, um dem Wahnsinn nicht zu verfallen. So sucht der einsame Willibald Gesellschaft in einer Kneipe und setzt sich neben eine Prostituierte, die ein Stück Fleisch verzehrt. Er summt sturzbetrunken «Freude, schöner Götterfunken».
Die deutsche Schriftstellerin Friederike Kretzen schreibt in einem dem Band angefügten Essay über Protagonisten wie Willibald: «Machen wir uns nichts vor. Ihre Figuren sind verstörend, sie bleiben uns bei aller Nähe fern. Es sind Unglücksraben, Kindsköpfe, Ungeschickte. Aber sie haben in ihren schrägen Laufbahnen einen schönen Erfolg vorzuweisen – überlebt zu haben.»
Die 1936 geborene Adelheid Duvanel wuchs in einer Juristenfamilie in Pratteln und Liestal auf. Mit 24 Jahren veröffentlichte sie ihre ersten Erzählungen in den liberal-konservativen «Basler Nachrichten», zwei Jahre später heiratete sie den Kunstmaler Joe Duvanel. Das Paar gehörte eine Weile zur Basler Kunstavantgarde, die für die Schweizer Kulturszene wegweisend war. So zeigt der Buchumschlag die Schriftstellerin im Musiklokal «Atlantis», dem damaligen Treffpunkt der Bohème.
Die beiden hatten eine Tochter, kamen aber miteinander nicht zurecht. Sie liessen sich scheiden, er nahm sich das Leben. Sie kam in Kliniken und starb 1996 unter Medikamenteneinfluss in einer kalten Sommernacht an Unterkühlung. Die Tochter erlitt den Drogentod; sie war selbst Mutter, ihre Tochter gilt als verschollen. Der Unauffindbaren gehören als Erbin die Rechte der unveröffentlichten Duvanel-Texte, die so vorderhand unerschlossen bleiben.
Bei aller Kürze hochdramatisch
Einzelne Geschichten leben nur von Andeutungen, die jedoch Bände sprechen, etwa «Die schwarzen Lederhandschuhe». Ohne dass die Autorin über die Untaten eines Mannes schreibt, weiss man, dass er eine fürchterliche Tat begangen haben muss. Die ältere Schwester Madlen räumt die Wohnung des Verhafteten mit einem Arbeitslosen, der sich derweil betrinkt: «Er rief mit böser Stimme, lauter und lauter: ‹Peng, peng!› und spannte mit dem rechten, gekrümmten Zeigfinger den Hahn eines unsichtbaren Revolvers, den er auf Madlen gerichtet hielt.» Mehr Drama in weniger Worten geht wohl nicht.
Lesung
Elsbeth Dangel-Pelloquin und Friederike Kretzen lesen und diskutieren zu Adelheid Duvanels «Fern von hier»
Do, 19.8., 19.00 Garten Christoph-Merian-Stiftung Basel; Anmeldung: www.literaturhaus-basel.ch
Buch
Adelheid Duvanel
Fern von hier
791 Seiten
(Limmat 2021)